Der Springer-Verlag will das Tribunal, das 1968 gegen ihn veranstaltet werden sollte, nun selbst ausrichten. Gute Idee, aber nur unter einer Bedingung, meint unser Autor
Nur mal zum Beispiel: Als ich Anfang 1968 in Begleitung von zwei Studentinnen aus einem Kino in Westberlin kam, trat ein Mann auf mich zu, fragte rotzig „Kommune, wa?“, um mir anschließend seine Faust ins Gesicht zu schleudern. Bei einer anderen Gelegenheit torkelte mir ein Betrunkener entgegen, zog an meinen langen Haaren und schlug mit seiner Stirn meine Nase blutig.
Zweifelsohne hätten die Bürger im Westteil Berlins die Kritiker ihrer Schutzmacht und ihres Alltags auch ohne Springer nicht sonderlich geschätzt. Eine Stadt in Lynchlaune zu versetzen – das blieb der Presse aus der Kochstraße vorbehalten. Wer sich heute unser Entsetzen angesichts dieser Brutalität vorstellen will, sei daran erinnert, dass die meisten von uns mit dem Kleinen Pri
Kleinen Prinzen oder den Duineser Elegien groß geworden waren. Es kann gut sein, dass nicht, wie derzeit unterstellt wird, der Mord an Ohnesorg es war, der die Drachensaat gestreut hat, aus der die RAF sprießen sollte, sondern die tägliche Erfahrung der symbolischen Gewalt, die mit einer manifesten schwanger ging.Die Absage 1968Alles drängte Anfang 1968 auf eine Abrechnung mit den „Manipulateuren“ hin, die Kampagne „Enteignet Springer“ sollte von einem Tribunal gekrönt werden. Als es am 2. Februar im Audimax der Berliner TU eröffnet wurde, mit einem Film von Holger Meins über die Produktion von Molotow-Cocktails in Fahrt gebracht und schon bald unter fadenscheinigen Gründen auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, war die Entgeisterung groß. Erst später wurde bekannt, dass nächtliche Steinwürfe auf die Scheiben von Morgenpost-Filialen, bei denen auch ein in diesem Falle unbedachter Dutschke im Verein mit dem Komponisten Hans Werner Henze mitmischte, das Tribunal vereitelten, weil wichtige Teilnehmer wie Jürgen Habermas, Alexander Mitscherlich, Gert von Paczensky daraufhin absagten.Vieles spricht heute dafür, dass die „Enteignet“-Kampagne gewirkt hat. Der gegenwärtige Springer-Chef Mathias Döpfner: „Dass der Verlag heute in Deutschland ein Bruchteil so groß ist wie Bertelsmann, hat auch damit zu tun, dass Axel Springer infolge der Enteignet-Springer-Kampagne und der Vorwürfe zu großer Meinungsmacht einen Teil seines Verlages verkaufte und Zukäufe unterließ." 2006 verbot das Kartellamt Springer, den Fernsehkonzern ProSiebenSat.1 zu übernehmen.Offerte aus dem Hause SpringerDer Makel sitzt also tief, eine Revision ist fällig, und warum sollte der Gott des Spektakels nicht das situationistische Grundmuster der Gegenöffentlichkeit von damals kopieren und zu spielen beginnen? Bestechend an der jüngsten Offerte aus dem Hause Springer an die 68er, das einstige Springer-Tribunal nun im Hause Springer nachzuholen, ist die verwirrende Widersprüchlichkeit der Einladung. Sieht man sie als knallhart durchdachten PR-Gag, dann zeigt sie im nächsten Augenblick einen happeninghaften Zug. Wertet man sie umgekehrt als Bekenntnis zur Spaßgesellschaft im Augenblick ihrer Abendröte, so erscheint plötzlich die Grimasse eines wohlkalkulierten späten Rache- und Entlastungsfeldzug, der im Zeichen der Kurras-Neuverortung und der Aufdeckung der Stasi-Gelder für die Anti-Springer-Kampagne seine Zeit für gekommen hält."Ich finde, es wäre an der Zeit, dass sich die uneinsichtigen Protagonisten der 68er-Bewegung mal bei unserem Haus entschuldigen", sagte Springer-Chef Döpfner unlängst in einem Interview: "Uns ist bewusst, dass unser Haus und unsere Blätter seinerzeit journalistische Fehler gemacht haben. Wir haben dies in der Vergangenheit zugegeben und tun dies auch heute.“ Man reibt sich die Augen. Die Aufforderung zu massenhafter Selbstjustiz, die sorgfältige Verbreitung einer Pogromstimmung – ein journalistischer Fehler? Selbstkritik im JubiläumsjahrMit der bei dieser Gelegenheit geäußerten Aufforderung an die „68er“, die eigenen Positionen von damals kritisch unter die Lupe zu nehmen, trifft Döpfner eine Stimmung im Lande, die nicht zuletzt im Jubiläumsjahr 2008 immer wieder artikuliert wurde. Abwegig ist dieses Verlangen keineswegs. Es ist ihm nur längst Genüge getan, und zwar nicht wie bei der Springer'schen Selbstkritik durch zwei oder drei Sätzchen, sondern in zahllosen Aufsätzen, Interviews und Büchern. Zuletzt von Peter Schneider in einem Selbstgespräch mit seinem 68er-Ego in dem Buch mit dem bezeichnenden Titel Rebellion und Wahn: Hier gehen die Schilderungen der subjektiven und objektiven Irrungen und Wirrungen Hand in Hand. Wie oft ist inzwischen die unkritische Rezeption der frühen chinesischen Kulturrevolution zugegeben worden, die Unbedarftheit in ökonomischen Fragen, die Fehleinschätzung einer drohenden Rückkehr des Totalitarismus, die weit verbreitete Dummheit in religiösen, künstlerischen und sogar philosophischen Fragen, das Überspielen innerer Unsicherheit durch arrogantes Auftreten.Was also hat das zu bedeuten, wenn der Ruf nach Selbstkritik trotz alledem nicht zur Ruhe kommt? Auch das wäre eine interessante Frage für einen Kongress unter Beteiligung beider Seiten, der nicht von Springer geplant und veranstaltet werden sollte, schon gar nicht im Verlagshaus. Vorschlag für ein ReenactmentUm aber nicht als Spielverderber zu erscheinen, könnten die damals Beteiligten die Einladung von Döpfner annehmen. Unter einer Bedingung: Nicht nur das geplante Tribunal sollte nachgespielt werden, sondern auch die versuchte Erstürmung des Verlagshauses nach den Schüssen auf Rudi Dutschke. Und zwar - sowohl auf Seiten der Rebellen wie auf der der Polizisten - ausschließlich mit Personen, die 1968 dabei waren, sei es in Berlin oder in anderen Städten. Lieferwagen des Verlags sind zur Abfackelung zur Verfügung zu stellen. Peter Urbach, der Spitzel des Verfassungsschutzes, der die Brandsätze lieferte, ist aus dem Exil nach Berlin zu holen, Rechtsanwalt Horst Mahler aus dem Gefängnis zu beurlauben und mit Krawatte, Anzug und Aktenmappe zu versehen, auf dass er erneut couragiert und standesgemäß wie damals die Empfangshalle des Verlagsgebäudes durchschreite. Der später hinzugekommene Teil des Verlagsgebäudes ist vorab durch Christo und Jeanne-Claude zu verhüllen.Zudem wäre es – wegen der kathartischen Wirkung – wünschenswert, ein Projekt zu realisieren, das wie das Springer-Tribunal seinerzeit unverwirklicht blieb, und das gut zu der angeblichen Stasi-Steuerung der Anti-Springer-Kampagne passen würde: Nach den Plänen der Kanalisation unter dem Springer-Haus, die in Ostberliner Archiven lagern und seinerzeit von den DDR-Behörden nicht herausgerückt wurden, jetzt aber wohl zugänglich sind, soll unterirdisch ein Kompressor installiert werden, der in einem geeigneten Augenblick, vielleicht nach einem die Selbstkritik symbolisierenden Pistolenschuss von Mathias Döpfner, das Verlagshaus mit eigenproduzierter, übelriechender Materie überschwemmt.