Schwarze Puppe

Fremde Puppen mit schwarzem Gesicht will in Venezuela heute kein Mädchen mehr sehen. In Israel erregt die der Autorin jedoch Anstoß

Bevor ich den Klassenraum betrete, in dem ich von heute an Spanisch unterrichten werde, sehe ich meine Schüler schon von weitem. Sie reden von ihren Reisen nach Lateinamerika, ihren Rucksäcken, ihren Wörterbüchern, den in Bars aufgeschnappten Vokabeln, von Schluchten, vom Straßenverkauf. Ich sehe sie und weiß, sie erwarten, dass ihre Lehrerin eine Mischung aus Jennifer López und Penélope Cruz ist.

Aber dann komme ich zur Tür herein, eine glanzlose Lateinamerikanerin, fast weiß, aber mit den Lippen und der Nase einer Schwarzen, die Hüfte und Kurven eingehüllt in das schlichte Gewand einer Staatenlosen. Die Unterrichtsstunde wird nicht von der Siesta zur Fiesta verlaufen, ganz im Gegenteil: Ich werde sie mündlich und schriftlich prüfen, Multiple-Choice-Tests verteilen und die Augenbrauen zusammenkneifen, bestrebt jedes Klischee vom Lateinamerikanischen auszulöschen. Anschließend kehre ich müde heim.

Es ist anstrengend, die Maske der Neutralität zu tragen. Ich krieche ins Bett und decke mich mit tausend Decken zu. Auf den verwunderten Blick meines Mannes hin sage ich: „Ich bin halt keine Venezolanerin mehr.“ Worauf er mir antwortet: „Aber meine Kleine, du siehst doch aus wie eine Souvenirverkäuferin für Touristen, guck dich doch im Spiegel an.“ Doch das lasse ich lieber, weil ich darin ein konturenloses Gesicht erblicken würde: Locken, die ihre Sprungkraft wegen der Trockenheit dieses Klimas verloren haben, eine Haut, die von so viel Winter immer blasser geworden ist, ein Paar übermäßig israelische Ohrringe.

Ich schaue um mich und bemerke, dass die Neutralität auch von meinem Mann Besitz ergreift. Er zeigt auf die argentinischen Rockmusik-Magazine, seine brasilianischen Rasseln, seine Flöten aus jedem Land. Aber ich achte eher auf die Möbel, die wir aus riesigen Pizza-Karton-ähnlichen Paketen ausgepackt haben, nachdem sie von einem kalten Schweden designed und einem ausgebeuteten Chinesen gebaut worden waren. Daraufhin zeigt er mir das Gedicht des venezolanischen Lyrikers Rafael Cadenas, das wie ein patriotisches Symbol an unserer Wand hängt, und sagt das abscheuliche Wort „Hybridität“. Es ist keine Neutralität, es ist Hybridität.

Und im Kinderzimmer, zwischen all den Ungeheuern, Puppen und Hydras finden wir eine schwarze Stoffpuppe aus Lumpen, so schwarz wie die Nacht an einer x-beliebigen Karibikküste. Ich habe sie an einer venezolanischen Küstenstraße gekauft, an einem Ort, an dem die Menschen den Ausdruck „politisch korrekt“ nicht kennen und die Puppen schwarz sind, weil sie eben schwarz sind. Ich erinnere mich, dass meine Tochter eines Tages diese Puppe spazieren trug. Sie hatte sie in die Außentasche ihres kleinen Rucksacks gesteckt und eine Frau war hinter uns stehen geblieben und hatte sie angestarrt wie einen Mönch, der Voodoo macht. Die Augen weit aufgerissen. Beinahe hätte sie sich bekreuzigt.

In diesem Moment dachte ich: Diese Puppe, die meine Tochter andauernd küsst, ist für die anderen ein fürchterliches Ungetüm, ein Kulturschock, ein Schrecken. Diese Puppe, die von meiner Tochter vergöttert wird, erinnert die anderen an den Schatten. Es ist eine Puppe, wie sie mir meine Mutter vor Unzeiten kaufte, wahrscheinlich in Erinnerung an ihre eigene Kindheit. Am Telefon erklärt mir meine Mutter, dass heute in Venezuela kein Mädchen diese Puppen mehr sehen will.

Liliana Lara, geboren 1971 in Caracas, Venezuela. Sie ist Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt seit 2001 in Israel, unterrichtet Spanisch und Literatur und promoviert in Literaturwissenschaften an der Hebrew University Jerusalem. Für ihren ersten Kurzgeschichtenband Los jardines de Salomón (Die Gärten des Salomon) erhielt sie 2007 den Preis "Premio VXI Bienal Literaria José Antonio Ramos Sucre".


Auf schreiben 20 lateinamerikanische und deutsche Autorinnen und Autoren unter 40 Jahren von Juni bis Oktober 2010 über ihren Alltag. Sie erzählen in Blog-Einträgen von persönlichen Erfahrungen und Realitäten, darüber wie sie in ihren Ländern Geschichte, Sexualität, politische Teilhabe und Globalisierung wahrnehmen. Alle Texte werden ins Deutsche übersetzt. Eine Auswahl finden Sie auf freitag.de/superdemokraticos ebenso wie alle Blogs aus der Freitag-Community zum Thema Lateinamerika. Wer selbst dort erscheinen will, versieht seinen Blogeintrag auf freitag.de mit dem Tag superdemokraticos.

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Übersetzung: Anne Becker
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