Nur wenige Male in ihrer Geschichte sahen die Vereinten Nationen den gesundheitlichen Zustand der Weltbevölkerung derart in Gefahr, dass sie deshalb einen Gipfel einberiefen. Das erste dieser High Level Meetings fand vor zehn Jahren statt – wegen der ungebremsten Ausbreitung des Aids-Erregers HIV.
Nun, am 19. und 20. September, laden die UN erneut zu einem solchen Gipfel nach New York. Wieder ist die Lage ernst und die Sorge groß, denn: Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit rollt eine Welle chronischer Krankheiten über die Entwicklungs- und Schwellenländer. Diabetes, Herz-Kreislaufleiden, Krebs und Atemwegserkrankungen – vermeintlich Seuchen der westlichen Industrienationen – grassieren unter den Armen. Knapp 30 Millionen von ihnen erlieg
nen erliegen jedes Jahr einer chronischen Krankheit. Das sind vier Mal so viele wie in den Industrieländern und weit mehr als weltweit jährlich durch Infektionen sterben. Und die Prognosen stimmen wenig hoffnungsvoll: Bis 2030 wird sich die Zahl der Diabetiker allein im Mittleren Osten, in Indien und Afrika mehr als verdoppeln. Die Pandemie sei bedrohlicher als die Finanzkrise, urteilt das Weltwirtschaftsforum und beziffert die Kosten 2009 auf bis zu einer Trillion US-Dollar. Eine Eins mit 18 Nullen.Es steht viel auf dem Spiel: Die gesundheitspolitischen Fortschritte der vergangenen Jahre sind bedroht, insbesondere der Rückgang der Sterblichkeit von Müttern und Kindern. Die WHO warnt vor einer neuen Welle der Armut. Die Behandlung chronischer Erkrankungen treibe jedes Jahr 100 Millionen Menschen in den Ruin und überfordere die labilen Gesundheitssysteme der Schwellenländer. „Die Millenium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen werden nicht erreicht, solange nicht ernsthafte und gemeinsame Aktionen gegen chronische Erkrankungen in Billiglohn- und Mittellohnländern getroffen werden.“ Arun Chockalingham, Direktor des US-National Heart Lungs and Blood Institute in Bethesda, spricht aus, was alle wissen: Der Kampf gegen Aids, Malaria und Tuberkulose ist noch nicht gewonnen, und schon entfaltet sich die nächste globale Krise.Die betroffenen Staaten und internationale Organisationen sehen bisher tatenlos zu. Laut Chockalingham wendet die WHO weniger als 15 Prozent ihres Budgets gegen chronische Krankheiten auf. Im Gesundheitsbudget von Weltbank und Bill- und Melinda-Gates-Foundation sind es zwei Prozent. Das Problem sei noch gar nicht erkannt, klagt Chockalingham.Vorwürfe an die IndustrieMit dem Gipfel in New York soll sich das ändern. „Das ist eine einzigartige Gelegenheit, um eine globale Bewegung gegen chronische Erkrankungen in Gang zu bringen wie vor einem Jahrzehnt gegen Aids“, kommentierte ein Zusammenschluss von 2000 Gesundheitsorganisationen, die NCD-Allianz, im April im Fachjournal Lancet. Etwas muss geschehen. Nur was?Dieses Mal gibt es kein Virus oder Bakterium, vor dem man sich prinzipiell schützen könnte. Es gibt nur vielschichtige Ursachen, die keinem strikten Muster gehorchen, auch oder vor allem, weil sie im unberechenbaren Verhalten der Menschen begründet sind. Den wichtigsten Teil zur Verbreitung der chronischen Erkrankungen trägt laut WHO die Verwestlichung des Lebensstils bei: Zu viele billige Fette, generell zu fette, zu süße, zu stark verarbeitete Nahrung, dazu Alkohol und Zigaretten gepaart mit Bewegungsmangel: Das ist jene fatale Mischung, die man aus den Industrienationen längst kennt. Nur dass sie sich dort im Rahmen guter medizinischer Versorgung und ganz allmählich, über Jahrzehnte, entfaltete. Das ist jetzt anders.„Die Ernährungsumstellung vollzieht sich in den Schwellenländern in einem nie dagewesenen Tempo“, analysiert der Mediziner Prakash Shetty von der University of Southampton Medical School. Besonders rasch erfolgt der Wandel in den Städten. Menschen, die vom Land in die Stadt ziehen, arbeiten immer seltener körperlich, sondern meist sitzend in einer Fabrik. Sie kochen und essen weniger zu Hause. Statt von frischen Lebensmitteln ernähren sie sich von Fastfood und importierter Fertignahrung. „China ist überzogen von Kentucky Fried Chicken und McDonalds“, berichtet der Londoner Epidemiologie und Präsident des internationalen Netzwerks zur Erforschung von Übergewicht, Philip James. Er klagt, dass die Ketten ihren Kunden erfolgreich erzählten, diese Art Essen sei toll. In Wahrheit mache es alle krank.Fakt ist: Nie war kalorienreiches und überzuckertes Essen in den Städten der Schwellenländer derart breit und billig verfügbar. Gerade Großstädte sind daher Schmelztiegel der chronischen Seuchen.Biologische BürdeZu allem Überfluss macht ein biologischer Mechanismus gerade Menschen, die unter Hungersnöten leiden, besonders sensibel für die Erkrankungen der Moderne: Infolge des Nahrungsmangels gebären sie sehr kleine und leichte Babys, deren Stoffwechsel alles Essbare maximal verwertet. Diese zierlichen Kinder werden durch das Überangebot besonders rasch dick, diabetisch und herzkrank. Diese Bürde der Unterernährung wies der britische Epidemiologe David Barker in den neunziger Jahren zum ersten Mal nach. Bis heute wurde sie dutzendfach bestätigt. Auch die Bewohner Indiens, Chinas, Lateinamerikas und des Mittleren Ostens werden deshalb besonders schwer von Zuckerkrankheit und Herzschwäche getroffen. Das Risiko für die Folgen eines unbehandelten Diabetes – Blindheit, Nierenversagen, Amputationen – ist extrem hoch.James erhebt jedoch auch schwere Vorwürfe gegen die globale Nahrungs- und Genussmittelindustrie: „Die korrumpieren die Regierungen weltweit und überziehen die Armen mit übelstem Junkfood.“ Von einem Mitarbeiter eines namhaften europäischen Lebensmittelkonzerns erfuhr er, dass Waren für den karibischen und zentralamerikanischen Markt wesentlich mehr Salz und Zucker enthalten. „Die bringen damit die Menschen um“, wettert James. Brancheninsider berichten Ähnliches über Waren für den Mittleren Osten. Auch deutsche Unternehmen liefern dorthin Softgetränke und Fertigprodukte, die noch süßer sind als die gleichen Produkte für den europäischen Markt. Im Orient leben mittlerweile die dicksten Frauen der Welt. Die Rate an Diabetes steigt rasant.Tikki Pang, Leiter der Abteilung Forschungspolitik der WHO, knüpft an diese Kritik an: Auch die Tabakindustrie gebe den größten Teil ihres Werbeetats in Schwellenländern aus. „In meiner Heimat Indonesien sponsert die Zigarettenindustrie Sportveranstaltungen. Das ist grotesk“, empört er sich. Während in Europa die Zahl der Raucher leicht abnimmt, wächst sie in den Niedrig- und Mittellohnländern beträchtlich.Vor allem mehr BewegungDie Folgen sind so absehbar wie verheerend. Die Schwellen- und Entwicklungsländer handeln sich in atemberaubendem Tempo die Gesundheitsprobleme der USA und Europas ein. Insbesondere die globale Diabetesverteilung wird auf den Kopf gestellt. Von 1980 bis 2008 hat sich die Zahl der Betroffenen mehr als verdoppelt. In Indien und China leben schon heute mehr Zuckerkranke als in den USA; in Ägypten sind mehr Menschen übergewichtig. Diabetes lastet mittlerweile auch schwer auf Lateinamerika, Süd- und Zentralasien, auf dem karibischen Raum und dem Mittleren Osten. Im indischen Kerala sind 30 bis 40 Prozent der Frauen diabetisch; in England sind es nur sieben Prozent. Während der Blutdruck der Westeuropäer zwischen 1980 bis 2008 sank, schnellten die Werte der Bevölkerung in Ozeanien, Ostafrika, Süd- und Südostasien hoch. Und neben Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen breiten sich bereits auch Krebs und Atemwegsleiden in Lateinamerika, Südostasien, im Mittleren Osten und in einigen afrikanischen Ländern rasant aus.Die Antworten, die auf dem Gipfel in New York gegen die Pandemie chronischer Erkrankungen gegeben werden, kennen die Industrienationen dabei längst: weniger Fett, weniger Zucker, Verzicht auf Zigaretten und Alkohol, vor allem aber mehr Bewegung – gemeinsam mit mehr Prävention und dem Zugang zu preiswerten Medikamenten. Neun Milliarden US-Dollar pro Jahr sind nach Berechnungen der NCD-Allianz nötig, um die Krise zu bekämpfen. Kann dieser Kampf erfolgreich sein? In Europa war der Widerstand der Lebensmittelindustrie stets groß genug, um die Effekte der Maßnahmen zu minimieren. Der Blutdruck in den Industrienationen sinkt zwar, aber alle anderen chronischen Leiden breiten sich weiter aus. Trotzdem lässt der UN-Vorstoß auch hoffen: Nach dem ersten Gipfel vor zehn Jahren gelang es immerhin teilweise, das HI-Virus zurückzudrängen.