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Kultur : Tauwetter- und Trauermusik

Von der Bewunderung Bartóks zur "begrenzten Aleatorik" als Reaktion auf John Cage: Die Orchesterwerke Witold Lutoslawskis sind endlich in einer Neuauflage wieder greifbar

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Diese Einspielung der orchestralen Hauptwerke Witold Lutoslawskis vor 1978, dirigiert vom polnischen Komponisten selbst, war lange nicht mehr greifbar. Die Neuauflage als Doppel-CD macht nun eine der ganz großen Figuren der Musik des 20. Jahrhunderts wieder lebendig.

Lutoslawski, der 1994 starb, begann mit spät-tonalen Werken in stilistischer Nähe zu Prokofjev und vor allem Bartók, an den er deutlich hörbar anknüpft. Das letzte und zusammenfassende Werk dieser ersten Phase, Konzert für Orchester von 1954, machte ihn bereits international bekannt. Es wiederholt den Titel von Bartoks wichtigstem, im Zweiten Weltkrieg entstandenen Werk, geht wie dieses „per aspera ad astra“. Es bedient sich Bartók’scher Schlüsselzitate, stellt sie aber in einen neuen historischen Kontext. Man glaubt, die Freude am kulturellen „Tauwetter“ nach Stalins Tod zu hören: Nachdem ein bedrückender Einstieg die Angst des Auf-der-Stelle-Tretens vergegenwärtigt, erinnert das Bartók’sche Signal eines heftig auffahrenden Sekundenschritts an die Möglichkeit, sich in Bewegung zu setzen, die dann auch umgehend realisiert wird.

Doch schon die Trauermusik von 1958, Lutoslawskis erste zwölftonale Komposition, kennt kein Happy End mehr. Béla Bartóks zehnter Todestag ist ihr Thema, und der Anfang kommt wiederum einem Bartók-Zitat nahe. Diesmal findet Lutoslawski aus der Düsternis nicht mehr heraus. Zur eigenen Musiksprache stößt er erstmals 1961 mit Jeux vénitiens vor, einer nur 13-minütigen Komposition, die aber bereits sämtliche Hauptmerkmale der weiteren Werke Lutoslawskis enthält. Es ist vielleicht selbst das wichtigste von allen.

Emanzipierte Eigenlogik

Ein Komponist reagiert nicht unmittelbar auf den Verlauf der Gesellschaftsgeschichte, vielmehr auf andere Komponisten: Das war in Lutoslawskis Fall John Cage, der begonnen hatte, eine Musik aus zufälligen Tonereignissen zu schreiben. Für Lutoslawski steckte darin eine unerträgliche Provokation, die er mit seiner „begrenzten Aleatorik“ beantwortete.

Diese Begrenzung liegt zunächst darin, dass es im Werk aleatorische Phasen gibt, die sich mit anderen Phasen abwechseln und von ihnen strikt getrennt bleiben. Dann aber auch darin, dass der Zufall nicht zufällig zustande kommt. Es handelt sich jedesmal um ein Zusammenspiel nervös flatternder Tonverläufe, die verschiedenen Instrumenten zugeteilt und dabei genau festgelegt sind, allerdings mit minimalen Tempoveränderungen („rubato“) gespielt werden sollen – und zwar von allen Beteiligten, so dass alle zu Solisten werden, wie es sonst pro Orchesterkonzert nur einen gibt.

Man kann sich vorstellen, was für „irrationale“ Rhythmen daraus resultieren. Mit solchen Phasen, die zwischen Akkord und linearem Tonhöhenverlauf die Mitte halten, hat Lutoslawski die klassische Zwölftonmusik erweitert und sich zugleich eine Errungenschaft der seriellen Musik frei angeeignet: emanzipierte Eigenlogik der Rhythmen.

Er wollte indessen nicht bloß technische Möglichkeiten erforschen. Vielmehr teilt sich ein Bewusstseinsphänomen mit: Aufgeregtheit, oft pure Angst angesichts der wahrnehmbaren Realität. Die Flatter-Phasen sind abgesetzt von nichtaleatorischen Feldern des stillen Nachhalls und der noch stilleren sehnsüchtigen Erwartung. Auf dieser schwimmen sie gewissermaßen. Witold Lutoslawski ist nicht nur ein Zeitzeuge; er lehrt uns auch, unsere Psychologie besser verstehen.

Witold Lutoslawski Orchestral Works. Polish Radio National Symphony Orchestra, Dirigent Witold Lutoslawski, 2 CDs, EMI Classics 2011

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