Die Stimme hinter dem Eis

Lauschangriff Für den Komponisten Pierre Boulez war Igor Stravinsky und sein Ballett "Le Sacre du Printemps" von prägender Bedeutung. Als Dirigent nähert sich Boulez nun anders an

Der Skandal bei der Uraufführung des Sacre ist legendär. Paris 1913: Die Öffentlichkeit will noch nicht glauben, dass ein großer Krieg bevorsteht, obwohl sie ihn vielleicht herbeisehnt, weil es so viele Spannungen gibt und ein reinigendes Gewitter gut täte. Das macht sie sich allerdings nicht bewusst. Und dann dieses Ballett mit einer Musik, die den Tod feiert: Le Sacre du Printemps, „das Frühlingsopfer“, Opferung einer Jungfrau, damit der starre Winter weicht. Die Jungfrau muss zwar „eingekreist“ werden, so dass sie „nicht mehr entrinnen kann“, wie Strawinsky schreibt. Aber dann ist sie „die Auserwählte“, und die Freundinnen huldigen ihr begeistert. Ihr eigener Opfertanz am Ende des Balletts führt in eine Mischung aus Grauen und Ekstase, vor der jede Beatmusik erblasst.

Man muss sich das klar machen: Die Besucher der Uraufführung hören nicht nur diese extrem dissonante, wenn auch immer noch tonale Musik mit ihren aufpeitschenden, messer- und beilscharfen Rhythmen, sondern sehen auch, was gemeint ist, vor sich auf der Bühne. Wen wundert‘s, dass sie es vorziehen, sich nur über die Musik zu erregen. Sie brüllen vor Wut und übertönen noch Strawinskys Lautpegel.

Für Pierre Boulez, den Dirigenten der Doppel-CD, die auch die anderen großen Frühwerke Strawinskys enthält, Petruschka und den Feuervogel, war der russische Komponist von prägender Bedeutung. Als er im Radio Strawinskis Oper Le Rossignol hört, will er selbst komponieren. Im Kompositionsunterricht bei Olivier Messiaen ist das Studium des Sacre du Printemps ein bedeutsamer Moment: Boulez interessiert sich für die irreguläre Rhythmik der ersten Introduktion.

Individualistische Rhythmik

Die vor allem von ihm erfundene „serielle Musik“ ist eine Kompositionstechnik, durch welche die Rhythmik unendlich verfeinert werden kann und sich gegen die anderen musikalischen Parameter (Klang, Dynamik, Tonhöhenverlauf) verselbstständigt. Das ist ihm nicht bloß „technisch“ interessant erschienen. Deutlich sprach er sich, ein junger Mann nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, für den radikalen Bruch mit Hörgewohnheiten aus, die er für die Katastrophen der jüngsten Vergangenheit mitverantwortlich machte.

Wir können nicht zweifeln, dass er dazu die Gewohnheit zählte, sich von Rhythmen und so von Militärmärschen aufpeitschen zu lassen. Dagegen hat er seine hochdiffizile „serielle“ Rhythmik gesetzt, die kein Körperkollektiv mehr fühlen lässt. Sie ist aufgeregt und aufregend genug, aber rein individualistisch geworden.

Der Dirigent Boulez muss anders vorgehen als der Komponist Boulez. Er will den verdinglichten Tonblöcken, die, wenn Strawinsky selbst dirigiert, in irren Sprüngen und Reibungen fast nur den Zwang des unbewussten mythischen Zusammenhangs zu erkennen geben, eine in ihnen verschlossene Empfindung ablocken – einen Individualismus, der keine Chance hat, zum Zug zu kommen, weil er eingefroren ist, den man aber doch von Ferne hört.

Die 2012 neu aufgelegte Einspielung stammt aus dem Jahr 1992. Um diese Zeit konnte man Boulez beim Dirigieren des Sacre du Printemps in der Berliner Philharmonie zusehen. Auf dem Pult wie ein General stehend, schien er in kurzen Abständen die Kanonen zu bezeichnen, die abgefeuert werden sollten. Kanonen gibt es ja wirklich. Die Stimme aber, die zu sagen versucht, dass es auch anders sein könnte, ist nicht ganz erstickt.

Igor StravinskyThe Firebird, Petrushka, The Rite of Spring Chicago Symphony Orchestra, The Cleveland Orchestra, dirigiert von Pierre Boulez, Deutsche Grammophon 2012

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden