Es ist nicht überliefert, was der Umweltminister Norbert Röttgen am Wochenende gedacht hat angesichts der Anti-Atom-Proteste. Rund 120.000 Leute bildeten am Samstag eine Menschenkette zwischen den norddeutschen Meilern Krümmel und Brunsbüttel – die größte Aktion seit Jahrzehnten. Lange Zeit hatten die Organisatoren selbst Bedenken gehabt, ob sich wirklich so viele Menschen in die schleswig-holsteinische Provinz locken lassen. Schließlich hatte sich der Protest jahrelang auf die üblichen Verdächtigen beschränkt.
Nun aber hat die schwarz-gelbe Bundesregierung mit ihrer Politik der Anti-Atom-Bewegung ein Comeback beschert – und was für eins. Umweltverbände und die Opposition mobilisieren bereits zum nächst
ächsten Termin: Wenn bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen die dortige Regierung kippt, gibt es im Bundesrat keine Mehrheit mehr für eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Anders noch als bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst könnte das Thema nun wahlentscheidend sein. Jetzt rächt sich, dass es CDU-Chefin Angela Merkel versäumt hat, ihrer Regierungspartei eine moderne Energiepolitik zu verordnen. Bei diesem Thema hängen die Konservativen, anders als in der Familie- oder Integrationspolitik, gedanklich noch im vorigen Jahrhundert fest.Die Anti-Atom-Bewegung ist jedenfalls wieder da. 24 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl eignet sich das Thema erneut zur Massenmobilisierung – und offenbar sogar deutlich über das rot-grüne Milieu hinaus. Unter den Demonstranten waren auch Konservative. Selbst CDU-Regierungschefs wie Christine Lieberknecht (Thüringen) oder Peter Müller (Saarland) lehnen den schwarz-gelben Atomkurs ab. Norbert Röttgen hat das längst erkannt, er reagiert durch leise Töne darauf und will eine nur moderate Laufzeitverlängerung. Doch nicht einmal dafür hätte er, wie Umfragen zeigen, unter den Anhängern von Union und FDP eine Mehrheit.Gleichzeitig hat sich der Protest gewandelt. Professioneller als andere Bewegungen haben die AKW-Gegner ihr Aktionsarsenal modernisiert: An die Stelle von ritualisierten Latschdemos und festen Gruppen mit regelmäßigen Treffen sind Veranstaltungen mit Event-Charakter getreten. Die Mitmach-Schwelle soll niedrig und der Spaßfaktor hoch sein: Flashmobs, Stromwechselpartys oder eben ein Happening wie die längste Menschenkette, die es in Deutschland je gegeben hat. Das Internet hilft dabei auf vielerlei Weise: Busbörsen laufen heute auf Google-Maps. Aufrufe verbreiten sich per Facebook und Twitter massenhaft, schnell und billig.Nicht zuletzt hat ein Jahrzehnt praktizierter Energiewende die Kräfteverhältnisse verändert. Der Anteil erneuerbarer Energien am Strommix ist von unter fünf auf mehr als fünfzehn Prozent gewachsen. Jeder kann sehen, dass die neuen Technologien funktionieren und dass sie immer billiger werden – im Gegensatz zu Kohle, Öl oder Uran. Konzernlobbyisten wagen kaum noch Angstkampagnen nach dem Motto „… dann gehen die Lichter aus“. Selbst die AKW-Ajatollahs vom Atomforum werben heute (wenn auch mit vergifteten Argumenten) für eine Koexistenz von Kernkraft und erneuerbaren Energien.Dank der rot-grünen Weichenstellungen tauchen die Nutznießer ökologischer Industriepolitik nicht mehr nur in Prognosen auf, sondern auch auf der Straße: 300.000 Jobs hängen hierzulande inzwischen an Sonne, Wind Co., die Branche setzt Milliarden um. Vor ein paar Jahren noch protestierte Verdi-Chef und Grünen-Mitglied Frank Bsirske gegen Klimaauflagen für Konzerne, am vergangenen Wochenende demonstrierten erstmals auch Verdi und die IG Metall gegen die Atomkraft. Solarfirmen schickten Busse zur Menschenkette im Norden, der Öko-Stromanbieter Schönau sponsorte einen bundesweiten Werbespot.Die kommenden Monate sind entscheidend für die Energiepolitik. Schwarz-Gelb schützt, trotz vieler grüner Worte, die alten Strukturen, Technologien und die mächtigen Stromkonzerne. Die Regierung streicht kalt lächelnd Förderprogramme für Ökoheizungen und Gebäudedämmung zusammen – und subventioniert neue Kohlekraftwerke. Von der groß angekündigten Offensive des Wirtschaftsministeriums gegen Energie-Monopolisten hat man lange nichts mehr gehört. Und just einen Tag vor den Anti-Atom-Protesten paukte Schwarz-Gelb tiefe Einschnitte bei der Solarförderung durch. Beispielsweise fallen künftig Großanlagen auf Ackerflächen, die am billigsten Sonnenstrom liefern, komplett aus der Förderung. Auch der einhellige Expertenrat brachte die Hardliner in der Union davon nicht ab.Ebenso gaben CDU-intern bei der AKW-Frage zuletzt die Betonköpfe die Richtung vor, allen Ernstes werden nun Gesamtlaufzeiten von 60 Jahren diskutiert. Für die Anti-Atom-Bewegung war das eher von Vorteil, gegen den netten Herrn Röttgen wäre das Demonstrieren schwerer gefallen. Langfristig aber nützt ihr, dass es auch den moderaten Unions-Flügel gibt – die Reihen der Atombefürworter sind dadurch tief gespalten. Die Chancen stehen also nicht schlecht, Schwarz-Gelb bei einem ihrer politischen Kernthemen zum Kurswechsel zu zwingen.Und der Umweltminister selbst? Ihm wird der Druck von der Straße sogar ganz recht sein, geht er doch nun gestärkt in den innerkoalitionären Energiestreit der nächsten Monate.