Jacek Bieganla ist ein höflicher Mann. Und er ist Diplomat. Deshalb kommentiert der Presseattaché der Polnischen Botschaft in Berlin auch nur zurückhaltend, was vergangene Woche vor seinem Amtssitz geschah: Für eine Reaktion sei es „noch zu früh“. Aber ja, doch, man nehme die Stimmen aus Deutschland „sehr ernst“. Was man halt so sagt, wenn an einem Januarmorgen eine Schar von Umweltschützern mit Transparenten vor der Botschaft steht und einen mächtigen Pappkarton abliefert. Darin die Kopien von rund 60.000 Stellungnahmen und Protestnoten.
Bis zum 4. Januar 2012 waren Bundes-, Landesregierungen und Bürger hierzulande aufgefordert, sich im Rahmen eines grenzüberschreitenden EU-Verfahrens zu äußern zu einer Politik
r Politik paradox: zum zeitgleichen Atomausstieg und -einstieg unter dem gemeinsamen europäischen Dach. Während in Deutschland 2022 das letzte AKW vom Netz gehen soll, könnten wenige hundert Kilometer ostwärts gerade die ersten zwei Reaktoren anlaufen. Unter 28 anvisierten Standorten hat die Regierung in Warschau eine Prioritätenliste erstellt. Orte in unmittelbarer Grenznähe zu Deutschland wie das Städtchen Gryfino gegenüber von Schwedt rangieren offiziell zwar nur an hinterer Stelle. Doch hat Polens halbstaatlicher Energiekonzern PEG, der den AKW-Bau übernehmen soll, überraschend einen neuen Standort ins Gespräch gebracht: Gaski an der Ostsee, nur 100 Kilometer weit weg von der Urlaubsinsel Usedom. Auch der Favorit für Polens erstes AKW ist nur 280 Kilometer entfernt, Żarnowiec westlich von Danzig, wo noch die Ruinen von Polens erstem Einstiegsversuch in die Kernenergie vor sich hinrotten.Wo genau die Meiler stehen sollen, welche Reaktortechnologie verwandt wird, wie die Bevölkerung vor Risiken geschützt oder wo der Nuklearmüll entsorgt wird – darüber hatte man sich in Deutschland Klarheit erhofft, als das polnische Wirtschaftsministerium im Oktober den Entwurf für eine EU-rechtlich vorgeschriebene Strategische Umweltprüfung (SUP) zusandte. Doch was Umweltschützer und Behörden auf den Tisch bekamen, ließ auch manch Ministerialem die Haare zu Berge stehen. „Kernkraftwerke, wenn man ihren ganzen Lebenszyklus berücksichtigt, sind am freundlichsten für den Menschen und das Ökosystem“, heißt es in dem Bericht etwa. Gravierende Unfälle seien nahezu ausgeschlossen. Und wenn doch mal was schief ginge, reiche die Vergabe von Kaliumiodid-Tabletten in einem Radius von drei Kilometern.Unterschätzte RisikenNicht allein diese überwunden geglaubte Technikgläubigkeit entsetzt Atomgegner. Hinzu kommen Widersprüche, Laxheiten, ungeprüfte Aussagen und Verstöße gegen EU-Recht in dem polnischen Regierungsentwurf. Die Auswahl der Standorte: kaum nachvollziehbar. Katastrophenpläne: fast Fehlanzeige. Strombedarfsprognosen: utopisch. Entsorgungsfrage: verdrängt. „Inhaltliche Nachlässigkeiten, Lücken, Verharmlosungen und nicht geprüfte Alternativen“, konstatiert die Landesregierung des nächsten Nachbarn Mecklenburg-Vorpommern. Die Risiken der Atomtechnologie würden „dramatisch unterschätzt“, schreibt auch Brandenburgs Umweltministerin Anita Tack (SPD) in ihrer offiziellen Stellungnahme. „Ihre Pläne zum Einstieg in die Kernkraftnutzung, an denen Sie offenbar auch nach dem dramatischen Reaktorunglück von Fukushima festhalten wollen, erfüllen mich mit allergrößter Sorge.“ Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU) appelliert an Warschau „im Interesse der Bevölkerung beiderseits der Grenze die Pläne zu überdenken und auf das Vorhaben zu verzichten“.Caffiers CDU-Parteifreund, Bundesumweltminister Norbert Röttgen, hat sich dagegen für Leisetreterei entschieden. In ihrer Stellungnahme verzichtet die Bundesregierung auf Kritik am polnischen Atomprogramm. In epischer Breite wird stattdessen dargelegt, warum Deutschland sich für eine Energiewende entschieden hat und dass man Polen gern beim Ausbau der erneuerbaren Energien unterstütze.So viel politische Abstinenz mag diplomatisches Kalkül sein. Mit Blick auf die Geschichte reagiert Polen sehr empfindlich auf Einmischungsversuche – vor allem aus Deutschland. Dass in Mecklenburg die NPD mit revanchistischen Parolen wie „Kein Atomtod aus Polen!“ auf den Protestzug aufspringt, macht die Sache nicht leichter.Auch hat Polen ein reales Problem. Bisher deckt das Land seinen Energiehunger zu über 90 Prozent aus Kohle. Um die EU-Klimaziele nur halbwegs zu erreichen, müsste Polen rapide umsteuern. „Das Land verfügt über ungeheure Potenziale für Windkraft oder Biomasse“, weiß Thorben Becker, Energieexperte beim BUND. Aber die Regierung mache bisher kaum Anstrengungen, sie zu nutzen.In den Badeorten an der Ostsee regt sich inzwischen ein zaghaftes „Nie Dziękuję!“ gegen Atomkraft – weil eine Kur in AKW-Nähe auch dort manchen Gast verschreckt. Doch steckt die polnische Umweltbewegung noch in den Kinderschuhen. Umweltaktivisten aus Deutschland wiederum haben kaum Illusionen, dass ihr Protest die Regierung in Warschau umstimmt. Mehr Einfluss dürften andere Akteure haben: die Banken, die das riskante Milliardenprojekt finanzieren müssten. Und die EU, die einer staatlichen Subventionierung des Atomprogramms den Riegel vorschieben könnte.