China gegen USA – Und wo bleibt Europa?

Leseprobe Wolfgang Hirn zeigt, dass China in den vergangenen Jahren in manchen Bereichen sogar die Führung übernommen hat und fragt: Kann Europa bei diesem Duell mithalten und eventuell seine technologische Souveränität zurückholen?
Beständiger Aufschwung: Arbeiter in Peking – Hauptstadt der Volksrepublik China
Beständiger Aufschwung: Arbeiter in Peking – Hauptstadt der Volksrepublik China

Foto: STEPHEN SHAVER/AFP via Getty Images

Einleitung

»Der Technologiekrieg zwischen den beiden Supermächten China und USA wird die entscheidende Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts werden.« – Stephen S. Roach, Ex-Investmentbanker und jetzt Fellow an der Yale University

Der 7. Oktober 2022 war ein Tag, der die Welt veränderte – und fast keiner hat es hierzulande gemerkt. In der Tagesschau wurde nicht darüber berichtet, und in den Printmedien fand das Ereignis nur – wenn überhaupt – als Randnotiz statt. In China hingegen verfolgte man aufmerksam, was an jenem Oktoberfreitag im fernen Washington per Dekret verkündet wurde: Die USA werden keine hochwertigen Chips mehr an China liefern, und sie würden mit all ihrer Macht verhindern, dass dies andere Nationen tun.

Das war eine Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an die Volksrepublik China. Keine Kriegserklärung im klassischen militärischen Sinne, sondern eine moderne, eine zeitgemäße. In diesem Krieg kommen keine Gewehre, keine Panzer, keine Flugzeuge und keine Bomben zum Einsatz und deswegen auch keine Menschen zu Schaden. Die Waffen in diesem Konflikt sind andere, denn wir befinden uns im Zeitalter der Geoökonomie. Die Waffen, mit denen man andere treffen will, sind wirtschaftlicher und technologischer Natur. Sanktionen, Export- und Investitionsverbote sind alles Instrumente aus dem Arsenal des Protektionismus. Und eben an diesem 7. Oktober griffen die USA ganz tief in diesen Instrumentenkasten. Spätestens nach jenem Tag war klar: Die USA wollen mit aller Macht verhindern, dass China weiter technologisch aufholt und sie womöglich überholt.

USA gegen China – das ist der Konflikt in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, wenn nicht gar darüber hinaus. Auch wenn manche Beobachter mit dem Vergleich zögern: Für mich ist diese Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten ein neuer, ein zweiter Kalter Krieg. Wie der erste Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion, bei dem es um Kapitalismus versus Kommunismus ging, wird auch sein Nachfolger gerne ideologisch aufgeladen: Demokratie versus Autoritarismus. Aber das ist nur eine vordergründige Etikettierung.

Den USA geht es bei der Auseinandersetzung mit China nicht um die Verteidigung westlicher Werte (wie soll ein Trump, der den Konflikt mit China schürte, glaubhaft demokratische Werte verkörpern?). Nein, es geht um Macht, um die Weltmacht, um die globale Nummer eins. Und diese Poleposition beanspruchen die USA nach dem Ende des gewonnenen ersten Kalten Krieges für sich, als sei das ein Naturgesetz oder gottgegeben. Die USA sehen sich als führende Wirtschafts-, Technologie- und Militärmacht, und das soll – God Bless America – gefälligst auch so bleiben.

Diesen Anspruch formuliert die US-amerikanische Führung auch ganz deutlich. Da klingen Donald Trump und Joe Biden gar nicht so unterschiedlich. Der eine sagt ganz simpel: »Make America Great Again.« Der andere weniger plump und etwas differenzierter, aber doch voller Selbstbewusstsein in einem Artikel für Foreign Affairs: »Es gibt keinen Grund, warum wir hinter China oder irgendjemand anderem zurückfallen sollten, wenn es um saubere Energie, Quantencomputing, künstliche Intelligenz, 5G, Hochgeschwindigkeitszüge oder den Wettlauf um die Ausrottung von Krebs, wie wir ihn kennen, geht. Wir haben die besten Forschungsuniversitäten der Welt. Wir haben eine starke Tradition der Rechtsstaatlichkeit. Und was am wichtigsten ist: Wir haben eine außergewöhnliche Zahl von Arbeitern und Innovatoren, die unser Land nie im Stich gelassen haben.«

Biden stellt ganz bewusst die Technologie in den Mittelpunkt seines Überlegenheitsdenkens. Denn sie entscheidet über die Stärke eines Landes. Nur sie ermöglicht eine wettbewerbsfähige Wirtschaft und ein starkes Militär. Bislang waren die USA der nahezu unangefochtene globale Technologieführer. Aber nun schickt sich China an, zu Beginn der vierten industriellen Revolution diese amerikanische Vormachtstellung infrage zu stellen.

Wenn man die vielen Studien amerikanischer Thinktanks liest oder den Reden amerikanischer Politiker zuhört, hat man den Eindruck, dass sie alle nur noch auf den Zweikampf China versus USA fixiert sind. Europa findet in ihren Augen kaum mehr statt, und wenn dann nur noch als nützlicher Kombattant oder bestenfalls als Juniorpartner der USA, der mithelfen soll, Chinas Einfluss einzuhegen.

Europa spielt in diesem Tech-Krieg zwischen China und den USA in der Tat nur eine zuschauende Rolle, auch weil wir Europäer von falschen Voraussetzungen ausgehen. So haben viele in Europa – vor allem in der Politik – ein antiquiertes China-Bild. Viele denken immer noch, China sei das Land der Kopierer, China sei das böse Land, das unsere Technologie klaut, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen immer wieder gerne betont.

Dieses China-Bild spiegelt sich in einem falschen Selbstbild. Wir schätzen die Chinesen zu schlecht ein und uns zu gut. Viele in der Politik glauben, wir Deutschen und Europäer seien immer noch in vielen Bereichen führend oder könnten mit ein paar Milliarden Euro hier und ein paar EU-Programmen dort wieder an die Spitze zurückkommen. »Deutschland gehört zu den führenden Innovationsnationen und attraktivsten Wissenschaftsstandorten weltweit« steht in der Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung. Wie weltfremd ist ein Bundeskanzler Olaf Scholz, der allen Ernstes behauptet, Deutschland habe »die besten Voraussetzungen dafür, dass wir auch in 10, 20 und 30 Jahren technologisch in der Spitzenliga spielen«? Oder eine Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger, die forsch verkündet: »Wir müssen unsere Technologieführerschaft verteidigen.« Sorry, welche Führerschaft? Wo liegt Deutschland vorn? Wo Europa?

Europas Wirtschaft ist da selbstkritischer. »Die Wettbewerbsfähigkeit unseres Kontinents ist geschwunden« heißt es in einem Papier des European Round Table for Industry (ERT), dem 60 Topmanager europäischer Konzerne angehören. Realitätsnah stellen sie fest: »Die USA, China und andere haben die EU bei vielen Indikatoren bereits überholt.« Das gilt bei Innovationen in den neuen Technologiefeldern, aber auch bei Patenten und Talenten (siehe die Kapitel 9 und 10).

Diesen Befund bestätigt eine Untersuchung des Australian Strategic Policy Institute (ASPI), das den Critical Technology Tracker herausgibt. Darin wird untersucht, welches Landes in welchen Technologien führend ist. Das Ergebnis: In 37 der 44 analysierten Technologien ist China vorn, in 7 die USA, Europa in keiner. Nun kann man natürlich an der Methode rummäkeln. Aber tendenziell liegen die fernen Australier richtig. Das ergab die Recherche zu diesem Buch, bei dem ich mich auf die technologische Auseinandersetzung zwischen China und den USA und die Rolle Europas konzentriert habe. Die zweifellos vorhandenen Erfolge von Ländern wie Indien, Israel, Japan, Kanada, Russland oder Südkorea habe ich deshalb nur am Rande erwähnt.

Ich habe alle wichtigen Zukunftstechnologien unter die Lupe genommen und jeder ein eigenes Kapitel gewidmet – von Künstlicher Intelligenz bis Quantentechnologie, von Chips bis 5G, von Biotech bis Raumfahrt (siehe die Kapitel 2 bis 8). Tendenziell muss ich leider feststellen: Europa verliert gegenüber den beiden Supermächten China und USA immer mehr an Boden. Und weil sich China und USA in ihrem Kampf um die technologische Vorherrschaft gegenseitig pushen, wird der Abstand Europas eher noch größer.

Ja, wir haben in Europa und speziell in Deutschland traditionell eine gute Grundlagenforschung. Aber bei der Umsetzung in marktfähige Produkte hapert es. Das war früher schon so und ist heute immer noch ein Problem. Da sind die USA und China einfach besser und schneller. In beiden Ländern herrscht ein entrepreneurial spirit, der dort auf weniger bürokratische Hindernisse und gleichzeitig auf bereitwillige Geldgeber stößt. Und beide Länder verfolgen sehr unterschiedliche, aber gleichwohl erfolgreiche industriepolitische Ansätze (siehe Kapitel 12).

Wenn ich über den Niedergang oder bestenfalls die Stagnation Europas schreibe, soll das nicht sarkastisch oder resignierend klingen. Im Gegenteil: Ich wünsche mir ein technologisch, wirtschaftlich und damit auch politisch starkes Europa. Ich habe drei Jahre meines Lebens in Brüssel verbracht. In dieser Zeit bin ich zum bewussten Europäer geworden. Ich bin ein großer Anhänger und Verfechter der europäischen Idee. Dieses europäische Identitätsgefühl verstärkte sich noch, als ich ein paar Jahre später für ein Jahr mitten in New York lebte und arbeitete. Da wurde mir klar, dass Europäer und Amerikaner unterschiedlich ticken – in ganz alltäglich-banalen Dingen. Zum Beispiel kann man in Europa nach einem Abendessen einfach sitzen bleiben und wird nicht mit der Killerfrage »Anything else?« zum Gehen aufgefordert. Außerdem besitzt dieses Europa, mein Europa, im Gegensatz zu den USA eine reiche Geschichte und Kultur, vor allem eine Geschichte, die reich an Entdeckungen und Innovationen ist.

Diese persönlichen Reminiszenzen vorausgeschickt, plädiere ich für ein starkes Europa, das auch gegenüber den USA selbstbewusst auftritt, das seine Interessen definiert und artikuliert. Und diese Interessen sind nicht immer identisch mit denen der USA. Wer so etwas schreibt und sagt, dem wird sofort vorgeworfen, er plädiere für eine Äquidistanz Europas zu China und den USA. Das verbuche ich unter Polemik. Natürlich ist mir klar, dass wir Europäer uns in einer Wertegemeinschaft mit zumindest dem Bidenschen Amerika befinden und dass China ein autoritärer Staat ist.

Aber ich bin skeptisch, ob dieser heterogene Staatenbund namens EU fähig und auch willens ist, gegenüber den mächtigen Nationalstaaten China und USA aufzuholen. Denn es fehlt in erster Linie an Einsicht. Um zu dem von mir gewünschten wiedererstarkten Europa zu gelangen, müssen sich die europäischen Politiker – ob in Brüssel oder den nationalen Hauptstädten – erst mal klar werden, wo dieses Europa technologisch steht, nämlich hinter China und den USA. An dieser Erkenntnis mangelt es in einer Mischung aus Nicht-Sehen-Wollen und Nicht-Wissen. Diesem Defizit möchte ich mit diesem Buch entgegentreten.

Der französische Journalist und Politiker Jean-Jacques Servan-Schreiber – auch unter JJSS bekannt – schrieb 1968 den Bestseller Die amerikanische Herausforderung. Ich habe ihn in Vorbereitung zu diesem Buch nochmals gelesen und einige Parallelen zur heutigen Zeit entdeckt. JJSS machte sich damals Sorgen um Europa, das im Wettstreit mit den USA nicht mehr mithalten könne. Jetzt sind wir Europäer wieder in so einer Situation – allerdings mit dem Unterschied, dass Europa diesmal gleich zwei großen technologischen Kontrahenten gegenübersteht: China und den USA.

Ich mache mir deshalb Sorgen, vielleicht größere als JJSS damals. Deshalb soll – wie sein Buch damals – auch dieses ein Weckruf sein. Denn es ist höchste Zeit für ein Buch über die amerikanisch-chinesische Herausforderung. Jetzt ist es da. Und es liegt in Ihren Händen, um gelesen zu werden, und es liegt in den Händen der deutschen und europäischen Politiker, um auf diese einzigartige doppelte Herausforderung angemessen zu reagieren.

Wolfgang Hirn, Berlin im Dezember 2023

Kapitel 1 – Der Tech-Krieg

Die Gefechtslage

»Den USA steht nun mit China ein wirtschaftlicher und militärischer Konkurrent gegenüber, der aggressiv versucht, unseren Vorsprung bei neuen Technologien zu verringern.« – Eric Schmidt, ehemaliger Google-Chef, jetzt Berater der US-Regierung

Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China ist eine sehr wechselhafte. Lange Zeit nahmen die USA China nicht so richtig ernst, weil sie dem kommunistischen Land weit überlegen waren. In den 1950er Jahren war China wirtschaftlich schwach, technologisch rückständig und militärisch eher ein Papiertiger. Danach folgten in China der »Große Sprung nach vorn« und die Kulturrevolution. Beides warf das Land noch weiter zurück. Doch mitten in diesem Niedergang während der Kulturrevolution entdeckten die USA China neu – aus geostrategischen Motiven.

Die USA befanden sich damals im Kalten Krieg mit der Sowjetunion. China war im ideologischen Zwist mit der UdSSR und lieferte sich gar ein Scharmützel mit ihr am Grenzfluss Ussuri. Angesichts dieser Gemengelage dachten die Strategen um Sicherheitsberater Henry Kissinger: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Also knüpfte Kissinger unter abenteuerlichen Bedingungen – er täuschte bei einem Besuch in Pakistan Übelkeit vor und flog in der Nacht zum 9. Juli 1971 mit Schlapphut und Sonnenbrille von Rawalpindi nach Beijing – die ersten Bande mit dem Mao-Regime. Zwei Tage lang konferierte er mit Ministerpräsident Zhou Enlai. »Eureka«, telegraphierte Kissinger anschließend an seinen Präsidenten Richard Nixon, »wir haben den Grundstein für Sie und Mao gelegt, eine neue Seite in der Geschichte aufzuschlagen.«

Im Februar 1972 reiste Nixon dann nach China und traf dort auch Mao. Damals wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorbereitet, die schließlich 1979 vollzogen wurde. In der Folgezeit plätscherten die Beziehungen so dahin. Bis zum Ende der Sowjetunion war China noch ein nützlicher »Verbündeter«, danach war China vor allem wirtschaftlich relevant. Die USA sahen China, die Fabrik der Welt, erst als billigen Produktionsstandort und etwas später dann auch als Absatzmarkt. Aber als Wettbewerber oder gar technologischen Herausforderer sah man China lange Zeit nicht. Man drängte China sogar 2001 in die Welthandelsorganisation WTO und hoffte, dass China sich in die westlich dominierte internationale Ordnung einfügen würde. Den Gefallen tat China allerdings nicht. Wie mit diesem immer selbstbewusster werdenden China umgehen? Das war die große strategische Frage in Washington in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends. Das politische Establishment und ihr soufflierender Tross von Thinktankern schwankten zwischen Containment (Eindämmung) und Engagement. Entsprechend gab es zwei Lager: Hier die Dragon Slayers, dort die Panda Huggers.

Im Laufe der Jahre gewannen die Containment-Anhänger immer mehr die Oberhand. Je stärker China wirtschaftlich wurde, desto mehr betrachtete man China als Gegner. Schon unter Barack Obama setzte diese Neubewertung Chinas ein. Er beziehungsweise seine Außenministerin Hillary Clinton verkündeten 2011 den Pivot to Asia, die Hinwendung zu Asien. Keine Hinwendung aus Liebe, sondern eher aus berechtigter Sorge, dass sich Chinas wirtschaftliche Stärke auch in militärische verwandeln werde. Deshalb – so der Gedanke Obamas – müsse die USA, die sich nach wie vor als pazifische Macht verstehen, stärkere Präsenz in Asien zeigen und China eindämmen.

Obamas Pivot wurde freilich nicht konsequent umgesetzt. Das erledigte dann sein Nachfolger Donald Trump. Er zettelte den Handelskrieg mit China an, verhängte Strafzölle und Sanktionen. Unter Biden wurde der Anti-China-Kurs fortgeführt, ja noch verstärkt. Er ging dabei viel strategischer vor als der erratische Trump. Biden erkannte richtig, dass China technologisch gegenüber den USA mächtig aufgeholt und diese teilweise schon überholt hat. Deshalb wurden gegen China vor allem Sanktionen bei den Chips verhängt, denn diese sind quasi die Achillesferse der Chinesen, die vor allem bei der Produktion hochwertiger Chips hinterherhinken.

China und die USA spielten bislang nicht in derselben Technologieliga, wie ein Blick in die industrielle Revolutionsgeschichte zeigt. Für die 1776 gegründete USA kam die erste industrielle Revolution zu früh, China hat gar die ersten drei verschlafen. Die erste aus Arroganz, die zweite fiel in das Ende der Kaiserzeit, in der das Land viel zu viel mit sich selbst beschäftigt war. Und bei der dritten befand sich das Land erst auf dem »Großen Sprung nach vorn« und dann in den Wirren der Kulturrevolution. Die USA hingegen haben die zweite (Thomas Alva Edison, Henry Ford!) und dritte industrielle Revolution (Computer!) entscheidend geprägt.

Und nun wollen sie auch die vierte industrielle Revolution anführen. Doch diesmal haben sie einen Gegner – China. Mit ihm führen sie deshalb einen Tech-Krieg, dessen einzelne »Schlachtfelder« ich in diesem Buch beschreiben werde.

Doch vorab eine Übersicht über die beiden Kontrahenten (und den Kombattanten Europa) sowie einen kurzen Ausflug in die ersten Jahre des Industriezeitalters, das zeitlich fern, aber thematisch sehr nah ist.

Eine kleine Vorgeschichte

In den ersten Jahren des frühen 19. Jahrhunderts reiste ein gewisser Francis Cabot Lowell nach England und Schottland. Der Amerikaner aus Massachusetts hatte in den Jahren zuvor in Boston ein erfolgreiches Handelshaus aufgebaut, importierte Tee und Seide aus China, Baumwolle aus Indien. Aber er sah – auch politisch denkend – ein, dass nur durch Handel die junge amerikanische Nation nicht groß und mächtig werden kann. Es musste auch eine eigene Produktion her. Doch das Land hatte in den Gründerjahren nur eine rudimentäre Landwirtschaft, aber keine Industrie und auch kein Know-how, wie man eine solche aufbaut. England hingegen hatte dieses Wissen. Das europäische Land befand sich in jener Zeit bereits mitten in der ersten industriellen Revolution.

So reiste also Francis Cabot Lowell im Juni 1810 nach England. Vordergründig hieß es, der stets kränkelnde Lowell wolle auf der Insel seine Krankheit auskurieren. Doch Lowell hatte Hintergedanken. Er besichtigte in Lancashire und Schottland Spinnereien und Webereien. Sie waren damals State of the Art, betrieben mit Dampf oder Wasser. Zwei Jahre hielt sich Lowell mit seiner Familie auf der Insel auf. Dann hatte er genug gesehen. Er begab sich auf die Rückreise über den Atlantischen Ozean.

Bei seiner Ankunft in Halifax – damals Englands Hauptfestung in Nordamerika – durchsuchten englische Beamte das Gepäck der Familie Lowell. Sie hatten herausbekommen, dass Lowell Fabriken ausspioniert haben sollte. Aber sie fanden in den zahlreichen Koffern der Familie Lowell nichts, keine Notizen, keine Aufzeichnungen. Der schlaue Lowell hatte alles in seinem Kopf notiert beziehungsweise memoriert. Sein phänomenales Gedächtnis reichte aus, um die Fabriken nachzubauen. So startete er 1814 mit ein paar Compagnons die Boston Manufacturing Company, die erste integrierte Textilfabrik in Nordamerika. Lowell starb bereits 1822 und konnte den großen Erfolg seines Unternehmens nicht mehr erleben.

Diese Episode zeigt, dass sich Geschichte wiederholen kann. Ende des 18. Jahrhunderts, anfangs des 19. Jahrhunderts haben die USA das gemacht, was sie heute China vorwerfen: Ideen und Maschinen geklaut, spioniert und Wissensträger mit viel Geld ins Land gelockt. Diese Machenschaften waren von höchster Stelle sanktioniert. Einer der Treiber war Alexander Hamilton, einer der Gründerväter der USA und der erste Finanzminister. 1791 forderte er zum Beispiel die USA auf, »alle in Europa bekannten Maschinen zu beschaffen«. Egal, ob legal oder illegal. Aber da die Engländer weder Maschinen noch Know-how legal herausrückten, geschah es eben meist illegal. Amerikanischer Ideenklau und das Abwerben und sogar Entführen von britischen Wissensträgern war damals an der Tagesordnung.

Doron Ben-Atar, Geschichtsprofessor an der Fordham University in New York und Buchautor schreibt: »Der Großteil der politischen und intellektuellen Elite der (amerikanischen) Gründergeneration war direkt oder indirekt in Technologiepiraterie verwickelt.«

In den ersten Jahrzehnten der jungen amerikanischen Nation entstanden vor allem in Boston die ersten großen Fabriken. Nicht nur die von Francis Lowell, sondern auch von anderen Unternehmern. Sie wurden die BostonAssociates genannt und waren die Väter der Industrialisierung der USA. Dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es Schlag auf Schlag. Große Konzerne entstanden, die zum Teil noch heute existieren. Es war die Zeit der großen Industriemagnaten, auch robber barons (Räuberbarone) genannt. Sie gründeten und dominierten beziehungsweise monopolisierten jeweils ganze Branchen: Andrew Carnegie (Stahl), Cornelius Vanderbilt (Eisenbahn), John Pierpont Morgan (Banken), John D. Rockefeller (Öl), später kam dann Henry Ford (Auto) hinzu.

Mit ihnen begann der Siegeszug der USA an die wirtschaftliche und technologische Weltspitze, an der sie sich bis heute befinden.

USA – der Titelverteidiger

Die USA sind die moderne Hightech-Nation. Dort wurde die zweite industrielle Revolution gestartet, als Thomas Alva Edison mit seinen Erfindungen die Elektrizität und Henry Ford die Massenfertigung begründeten. Dort begann auch die dritte Revolution mit dem Computer. Von dort kamen die wichtigsten Erfindungen der vergangenen Jahrzehnte – der Chip zum Beispiel oder das Internet. Der erste Mensch auf dem Mond war ein Amerikaner. Aber auch die erste Atombombe zündete ein Amerikaner.

Warum die USA so erfolgreich sind, erklärt sich mit zwei Begriffen: Know-how und Kapital – beides ist in Amerika ausreichend vorhanden. Zuerst zum Know-how: In den USA sind die besten und attraktivsten Universitäten der Welt. Zu den Topadressen der Ivy-League im Osten gehören Harvard, MIT, Princeton und Yale. Dazu kommt noch Stanford im Westen. Einen Großteil der über 350 amerikanischen Nobelpreisträger haben diese Hochschulen »produziert«. Keine Nation kann bei dieser Zahl an Laureaten auch nur annähernd mithalten.

Neben den Eliteunis entstanden – und das ist durchaus wörtlich beziehungsweise räumlich zu nehmen – innovative Cluster wie zum Beispiel das legendäre Silicon Valley in Kalifornien oder die etwas weniger bekannte legendäre Route 128 südlich von Boston. Neu hinzugekommen sind die Silicon Hills in der texanischen Hauptstadt Austin, das sich in den letzten Jahren zu einem veritablen Hightech-Standort entwickelt hat. Austin ist inzwischen auch der Sitz des Tech-Tausendsassas Elon Musk.

Zum Know-how kommt das Kapital. Hier spielen zwei Straßen eine zentrale Rolle: die Wall Street und die Sand Hill Road, oder nur Sand Hill. Die fast sechs Meilen lange Sand Hill geht durch Palo Alto, Menlo Park und Woodside, alles legendäre Orte der Hightech-Branche. In Palo Alto startete einst Google, in Menlo Park hat Meta (die Facebook-Mutter) das Headquarter und in Woodside wohnte Steve Jobs. Hier in der Sand Hill wurde die Idee des Venture Capital (VC) geboren. Mutige Investoren geben jungen Unternehmen quasi Startgeld in der Hoffnung, dass sie später ein Vielfaches davon zurückbekommen. Danach, wenn die Unternehmen erfolgreich sind und an die Börse gehen, kommt die Wall Street ins Spiel. Dort residieren die New York Stock Exchange (NYSE), die größte Börse der Welt, und die Nasdaq, die Technologiebörse für die Hoffnungsträger. So entstanden die weltweit dominierenden Onlinekonzerne mit Amazon, Facebook (inzwischen Meta) und Google (inzwischen Alphabet).

Hinzu kommt, dass US-Firmen im Marketing unschlagbar sind. Sie können Produkte – auch solche, die die Welt eigentlich nicht braucht – bestens vermarkten, und zwar global. Beste Beispiele: erst Coca-Cola, dann McDonalds und schließlich Starbucks. Kaffeekultur assoziiert man eigentlich mit Europa, mit Italien, vielleicht auch noch mit Österreich. Doch ist ein Italiener auf die Idee gekommen, eine globale Kaffeekette aufzuziehen? Nein, der italienische Barista begnügt sich mit seiner Bar am Ort und denkt nicht mal an eine zweite. So war es ein gewisser Howard Schultz, ein Verkäufer aus Brooklyn, der die erfolgreichste Kaffeekette der Welt kreierte. Ich hatte ihn mal 2001 zu einem Interview in Seattle getroffen. Zu der Zeit hatte Starbucks rund 5000 Filialen, die meisten in den USA. Schultz sprach damals von einem Ziel von 25000 Starbucks-Shops. Ich dachte nur: »Träumer«. Heute hat Starbucks über 36000 Filialen.

Amerikas Gründer und Unternehmer denken eben big. Aber nicht nur die Markenartikler in der Konsumbranche, sondern auch die vielen Technologie-Unternehmer. In der Tech-Welt sind beziehungsweise waren solche Vordenker der eher introvertierte, inzwischen verstorbene Apple-Mitgründer Steve Jobs und der extrovertierte Bill Gates (Microsoft), heute »nur« noch der weltgrößte Philanthrop, aber in diesem Metier nicht minder visionär.

Zu der neuen Generation der weitblickenden Tech-Unternehmer zählen Amazon-Gründer Jeff Bezos und Multi-Unternehmer Elon Musk, der uns in diesem Buch noch öfter begegnen wird. Letzterer ist kein lupenreiner Amerikaner, denn er besitzt drei Pässe (Südafrika, Kanada, USA). Aber Musk versteht sich sowieso als Weltbürger, der ähnlich wie Bill Gates die Menschheit von allen Übeln retten will: Hunger, Klimawandel und Krankheiten jeder Art. Und wenn es hier zu voll wird, dann schickt man – so Musks Idee – eben einen Teil der Menschheit auf den Mars.

Musk ist der Prototyp einer Spezies, die Daron Acemoğlu und Simon Johnson in ihrem Buch Macht und Fortschritt als »Visionsoligarchie« bezeichnen. Das ist ein treffender Ausdruck für diese zwischen Vision und Wahnsinn vagabundierenden Vordenker.

Sie sind sehr einflussreich, schreiben Acemoğlu und Johnson: »Sie üben große Faszination auf die einflussreichen Hüter der öffentlichen Meinung aus, nämlich auf Journalisten, andere Unternehmensleiter, Politiker, Wissenschaftler und verschiedenste Intellektuelle.« Ihr unbändiger Optimismus paart sich mit dem der amerikanischen Politiker, die seit der Gründung der Vereinigten Staaten ein ebenfalls sehr ausgeprägtes Selbst- und Sendungsbewusstsein haben. Sie leben alle ihren American Dream und fühlen sich als Repräsentanten eines ausgewählten Volkes, gerne mit christlichem Pathos unterlegt. Es gibt keine Präsidentenrede, die nicht mit God Bless America endet. In dieser Grundhaltung unterscheiden sich Donald Trump und Joe Biden nicht voneinander. Für sie sind die USA die führende Technologie- und Wirtschaftsnation – und diese Position wollen sie mit aller Macht verteidigen.

Wehe, dieser Status wird von außen attackiert, dann kennen sie keine Freunde. Das bekamen die Japaner in den 1980er Jahren zu spüren, als sich die USA gegen die Flut japanischer Auto-Importe wehrten. Und auch die Europäer mussten erfahren, wie das ist, wenn man eine wichtige US-Branche herausfordert. Mit dem Airbus gelang den Europäern eine eindrucksvolle Attacke auf Boeing, und prompt wurden sie von den USA in einen jahrelangen Subventionsstreit verwickelt.

Das war nur Geplänkel unter Freunden und auch nur in einer Branche. Was derzeit ansteht, hat aber eine völlig andere Dimension. Jetzt werden die USA erstmals gleichzeitig in vielen Hightech-Industrien attackiert und das auch noch von einem Land, das man eher in die Kategorie Feind oder – etwas wohlwollender ausgedrückt – Rivale einstuft: China.

04.03.2024, 13:36

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