Wie der Westen Glaubwürdigkeit zurückgewinnt

Leseprobe Ukraine, Afghanistan, Mali: Angesichts zahlreicher Konflikte und gleichzeitiger Planlosigkeit westlicher Regierungen im Umgang mit Migrationsbewegungen und Islamismus diagnostiziert die Autorin einen zwischen Hybris und Selbsthass gefangenen Westen
Ein zerstörter Panzer der russischen Armee auf dem Maidan Platz in Kiew, Ukraine
Ein zerstörter Panzer der russischen Armee auf dem Maidan Platz in Kiew, Ukraine

Foto: DIMITAR DILKOFF/AFP via Getty Images

Einleitung

Der Westen ist die freieste, wohlhabendste und sozialste Region der Welt. Nirgendwo werden die Freiheitsrechte des Individuums stärker geschützt, haben Frauen im Kampf für Gleichberechtigung mehr erreicht, können sexuelle, ethnische und religiöse Minderheiten ihre Anliegen besser geltend machen. Nirgendwo profitiert die Bevölkerung mehr von steuerbasierten sozialen Einrichtungen, einem hoch entwickelten Gesundheitssystem sowie kostenloser Bildung.
Dennoch droht der Westen zu scheitern. Verantwortlich ist eine krude Mischung aus Hybris und Selbsthass, die gleichermaßen zum Aufstieg von Diktatoren wie zur Eliminierung fundamentaler demokratischer Errungenschaften führt. Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine war nur möglich, weil man die von Putin stets offen zur Schau gestellte Aufrüstung nicht als Bedrohungsszenario einstufte. Das gilt besonders für Deutschland. Selbst die Überfälle Russlands auf seine Nachbarstaaten hinderten deutsche Politiker nicht, weiterhin an der Mär Wandel durch Handel festzuhalten und die Abhängigkeit in besonders vulnerablen Sektoren voranzutreiben. Jetzt ist guter Rat teuer, wenn man die russische Militärmaschine nicht weiterhin mit Milliarden aus dem Gas-, Ölund Kohlegeschäft finanzieren möchte. Wirtschaftsminister Robert Habeck besaß genug Weitblick, um festzustellen, dass es mit der populistischen Parole Frieren für den Frieden nicht getan ist, und pilgerte an den arabischen Golf, um dort für neue Energiepartnerschaften zu werben.

Die künftigen Energielieferanten, mit denen langfristige Verträge anvisiert werden, sind allerdings ausnahmslos islamistische Diktaturen, die durch endemische Menschenrechtsverletzungen und eine extrem patriarchalische normative Ordnung auffallen. Man könnte Habecks Kooperationsbemühungen Realpolitik nennen, wenn nicht gerade von der deutschen Regierung eine feministische Außenpolitik ausgerufen worden wäre. Doppelmoral wäre daher wohl der treffendere Begriff für diese und andere Widersprüchlichkeiten, die das große Projekt des Westens, nämlich die weltweite Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, immer wieder diskreditieren.
Zu den offensichtlichen Ambivalenzen gehört der halbherzige Umgang mit dem Islamismus. Der mit großem Pathos inszenierte Krieg gegen den Terror sparte außenpolitisch sowohl die Financiers als auch die wichtigsten Rückzugsgebiete islamischer Terroristen aus und setzte innenpolitisch vornehmlich auf eine fatale Beschwichtigungspolitik, um die einheimischen Muslime nicht zu verprellen. Ähnlich wie bei den Beziehungen zur Russischen Föderation setzt man seit Jahrzehnten auf die Hoffnung, dass Menschen zu Demokraten werden, wenn man das richtige Angebot macht und es monetär attraktiv ausgestaltet. In Afghanistan ist diese Strategie nach 20 Jahren ebenso krachend gescheitert wie beim politischen Islam westlicher Prägung, ohne dass dies zu tieferen Einsichten geführt hätte. Obgleich die Anzahl der Demokratien weltweit zurückgeht, verkünden westliche Politiker, allen voran der amerikanische Präsident, unverdrossen einen unvermeidlichen Sieg der Demokratie.

Im Angesicht der furchtbaren Bilder aus der Ukraine stehen Europa und die USA enger zusammen als in den vergangenen Jahren, und Bundeskanzler Scholz sprach sogar von einer Zeitenwende. Wer genau hinschaut, sieht allerdings die realen Bruchlinien hinter der wohlfeilen Rhetorik. Im globalen Süden wird die Parteinahme zugunsten des Westens weitgehend abgelehnt, und demokratische Staaten wie Indien haben ihre Geschäfte mit der Russischen Föderation sogar intensiviert. Doch auch innerhalb der EU und der NATO ist man von einer Einigkeit weit entfernt. Viele westliche Gesellschaften sind nämlich tief gespalten. Eine verfehlte Migrationspolitik hat gleichermaßen zur Herausbildung islamistischer Parallelgesellschaften wie rechtspopulistischer Parteien geführt, und mancher Politiker sieht sich Russland letztendlich näher als den USA.

Gerade für die westliche Linke ist ein tief verwurzelter Antiamerikanismus konstitutiv. Das liegt zum einen an fragwürdigen militärischen Interventionen, die ganze Länder zerrütteten und auch schon mal eine Demokratie zum Einsturz brachten, wenn die gewählte Regierung nicht den Vorstellungen der Machthaber in Washington entsprach. Zum anderen stand hinter der Feindschaft gegen die USA eine ideologisierte Einäugigkeit, die bemerkenswert ist. Während junge Revoluzzer in New York und Berlin über die angebliche Geißel des Kapitalismus und die Menschenrechtsverletzungen des US-Imperialismus dozierten, schwiegen sie über Millionen von Gefolterten und Ermordeten in kommunistischen Ländern. Während sie die Freiheitsrechte des Westens bei antiwestlichen Demonstrationen und Versammlungen in Anspruch nahmen, erwähnten sie mit keinem Wort, dass jede Form der Opposition in China, der Sowjetunion oder in Kuba mit äußerster Repression unterbunden wurde. Vor diesem Hintergrund empfanden viele auch die Demokratiebewegungen in Osteuropa als störend und wandten sich lieber dem Aufbau guter Beziehungen zum sowjetischen Nachbarn zu.

Bis auf den heutigen Tag wird der Westen von der Mehrheit der Linken bis hinein in konservative Kreise für Armut, Kriege, Umweltkatastrophen und andere Übel dieser Welt verantwortlich gemacht. An europäischen, amerikanischen und australischen Universitäten konstruieren sogenannte postkoloniale Theoretiker den Westen als Reich eines postreligiösen Antichristen, der die Welt in einen Zustand der Verdammnis gebracht hat. Dabei geht es längst nicht mehr nur um den Westen als politisches und ökonomisches System, sondern auch um Menschen weißer Hautfarbe. Ein neuer Rassismus formiert sich, und er richtet sich – historisch ein absolutes Novum – gegen die eigene Bevölkerung. Weiß sein wird in der weißen Welt zum Stigma, im postchristlichen Sinn zur neuen Erbsünde, und gerade Angehörige der privilegierten weißen Mittelschicht kultivieren einen skurrilen Kult, in dem sie öffentlich ihre Schuld, rassistisch zu sein, bekennen. Sie werden von Personen unterstützt, die sich als Opfer westlichen Rassismus oder anderer vermeintlich diskriminierender Praktiken inszenieren. Da die Anerkennung eines Opferstatus in der Regel mit finanziellen Zuwendungen belohnt wird und ein lukratives Geschäftsmodell darstellt, lässt sich gegenwärtig eine Multiplizierung von selbst ernannten Opfergruppen beobachten. Auf der Gegenseite wurde der heterosexuelle alte weiße Mann zur ultimativen Hassfigur.

Die Folgen sind alles andere als trivial. Die Idee der Gleichheit aller Bürger weicht einem identitätspolitischen Furor, der Menschen nach äußerlichen Merkmalen, sexuellen Gewohnheiten und, sofern es Muslime betrifft, auch nach Religionszugehörigkeit gliedert. In angelsächsischen Ländern wurden Arbeitsverträge gekündigt, weil die Hautfarbe der Angestellten als unpassend für ein diverses Zeitalter betrachtet wurde, und manch einer schwadroniert darüber, dass Weiße nicht mehr publizieren oder keine Führungspositionen mehr bekleiden sollten. Mit verordneten Sprachregelungen möchte man die Bevölkerung zur Anerkennung der neu geschaffenen Realitäten nötigen und setzt damit implizit an das alte kommunistische Ideal der Erschaffung eines neuen Menschen an, der in der Diktatur des Proletariats geschmiedet werden sollte. Auch die Meinungs-, Presse-, Kunstund Wissenschaftsfreiheit geraten unter Druck. Verboten werden soll alles, was Lobbygruppenvertreter als verletzend empfinden könnten, und dies betrifft selbst schlichte Erkenntnisse der Naturwissenschaften.

Ein großer Teil der Bevölkerungen westlicher Länder lässt sich von der Aggressivität, mit der die neue Welt errichtet wird, einschüchtern und zieht sich in eigene Parallelstrukturen zurück. Einige schließen sich extremen Organisationen an. In etlichen Ländern, zu denen die USA und Frankreich gehören, werden Wahlen zur gesellschaftlichen Zerreißprobe. Wenn der Westen in diesen Herausforderungen bestehen will, muss er sich auf seine Grundlagen besinnen. Es gibt weder einen Grund für Überheblichkeit noch für Selbsthass. Beides behindert die realistische Überprüfung eigener Stärken und Schwächen, die notwendig ist, um aus Fehlern zu lernen und die Zukunft des Westens zu sichern. Eines sollte dabei gewiss sein: Wer die Freiheit im Innern nicht achtet, hat nach außen nichts zu verteidigen.

Der russische Überfall auf die Ukraine

Am 24. Februar 2022 überfiel die Armee der Russischen Föderation die Ukraine. In westlichen Ländern löste dieser Krieg mitten in Europa einen Schock aus. Das Prinzip Wandel durch Handel wurde vom russischen Präsidenten Wladimir Putin ebenso ad absurdum geführt wie die Hoffnung, dass sich regelbasierte Ordnungen westlichen Stils mithilfe von Soft Power durchsetzen lassen. Europa realisierte bestürzt, dass es sich in falscher Sicherheit gewogen hatte und der gern zur Schau getragene Hochmut gegenüber den USA, die seit Langem eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben angemahnt hatten, vollkommen inadäquat gewesen war. Besonders hart traf diese Erkenntnis deutsche Politiker, die für die Misere in entscheidendem Maß mitverantwortlich waren, weil sie das russische System verharmlost, politisch legitimiert und mitfinanziert hatten.

Genealogie eines unerwarteten Krieges

Im Rückblick muss man sagen, dass der Angriff mit Ankündigung erfolgte. Bereits am 1. Juli 2021 hatte Putin auf der Website des Kreml einen 24-seitigen Essay mit dem Titel Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern veröffentlicht, in dem er der Ukraine das Recht absprach, ein eigenständiger Staat zu sein. Es handele sich um eine illegitime Konstruktion der Bolschewiki aus dem Gründungsjahr der Sowjetunion, schrieb er, und diese werde gegenwärtig vom Westen gesteuert, um Russland zu schwächen. Russen, Belarussen und Ukrainer, so seine zentrale Aussage, seien ein Volk und gehörten zu einer dreieinigen russischen Nation. Diese Nation dürfe nicht gespalten werden.

Der Hintergrund dieser These ist ein gemeinsamer russisch-ukrainischer Ursprungsmythos, der ins neunte Jahrhundert zurückreicht, als normannische Stämme die Föderation der Kiewer Rus gründeten, die aus mehreren Herrscherhäusern bestand und vom Kiewer Fürsten angeführt wurde.1 Die glanzvolle Zeit endete mit der Eroberung durch die Mongolen im Jahr 1237 und einer anschließenden Zersplitterung. Ab 1350 wurde Moskau das wichtigste Machtzentrum der Region und die Ukraina zum Grenzland. In den folgenden Jahrhunderten fielen Teile des heutigen Staatsgebietes an Polen, an Russland und an das Habsburger Reich.

Seit dem 19. Jahrhundert lassen sich Bestrebungen der Ukrainer erkennen, einen eigenen Staat zu gründen. Das gelang für eine kurze Zeit nach der Februarrevolution 1917, doch bereits 1918 eroberten die Bolschewiki die Region zurück und konstituierten 1922 eine Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik.2 Es folgten Russifizierungsmaßnahmen und Zwangskollektivierungen. Widerstand wurde mit Säuberungsaktionen und dem Aushungern der Bevölkerung gebrochen. Nach Schätzungen starben dabei zwischen drei und sieben Millionen Menschen.3 Eine zweite Repressionswelle und eine weitere Hungersnot folgten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Diese jüngere Geschichte wird heute von Ukrainern als ebenso traumatisch erinnert wie die Ermordung von acht Millionen Menschen durch das nationalsozialistische Regime.

Während der Perestroika unter Michail Gorbatschow entwickelte sich ab den 1980er-Jahren erneut eine ukrainische Unabhängigkeitsbewegung. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung stimmten 1991 in einem Referendum für den Austritt aus der Sowjetunion. Auch auf der Halbinsel Krim, die 1954 unter Nikita Chruschtschow dem ukrainischen Territorium zugeordnet wurde, entschied sich damals eine knappe Mehrheit der Befragten gegen einen Verbleib in der Sowjetunion. Im Budapester Memorandum, das die USA, Russland und Großbritannien 1994 unterzeichneten, wurde die territoriale Souveränität der Ukraine festgelegt. Im Gegenzug verzichtete diese auf die Atomwaffen, die in der Vergangenheit bei ihr stationiert worden waren. 1996 verabschiedete das ukrainische Parlament eine neue Verfassung, in der die Ukrainer als Staatsvolk und die ukrainische Sprache als Staatssprache genannt wurden, und 1997 schloss Boris Jelzin einen Freundschaftsvertrag zwischen Russland und der Ukraine, in dem die nationale Souveränität bestätigt wurde.

Trotz dieser Entspannung gab es starke Kräfte in Russland, die mit der Entwicklung nicht einverstanden waren und eine Wiedervereinigung der sogenannten russischen Zivilisation anvisierten. In der Ukraine selbst herrschte ebenfalls keine Einigkeit darüber, wie die Beziehungen zu Russland in der postsowjetischen Phase ausbuchstabiert werden sollten. Ein Teil der russischsprachigen Minderheit in der Bevölkerung blieb russlandorientiert, die Mehrheit strebte jedoch nach Europa. Ein wirklicher politischer Wandel war in den ersten Jahren der Unabhängigkeit ohnehin nur in Ansätzen erkennbar. Oligarchen und Funktionäre der Kommunistischen Partei etablierten einen dichten Filz korrupter und nepotistischer Strukturen, und ehemals sowjetische Eliten, die von Russland unterstützt wurden, dominierten weiterhin die Politik. Notwendige Reformen blieben aus, das Bruttoinlandsprodukt sank kontinuierlich, und Millionen Ukrainer verließen aufgrund wirtschaftlicher Not das Land.

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24.08.2022, 13:03

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