»Das können die schon vertragen!«
Als der sozialistische Theoretiker Eduard Bernstein in den frühen Jahren der Sozialdemokratie wieder einmal über »soziale Gerechtigkeit« philosophierte, belehrte ihn sein Freund, der SPD-Reichstagsabgeordnete Ignaz Auer, geboren in Dommelstadel bei Passau, so: »Mein lieber Ede, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.«
Dieser Satz ist mir eingefallen, als ich als junger Journalist zu meinem ersten Interview mit dem CDU-Politiker Heiner Geißler ins Dorf Gleisweiler fuhr, seinen Wohnort an der Weinstraße in Rheinland-Pfalz. Geißlers zwölf Jahre als programmatischer Generalsekretär der CDU waren da schon vorbei, und er war auf dem Weg zur Legende: Christdemokrat und Kapitalismuskritiker, bekennender Katholik, ehemaliger Jesuit und aktives Attac-Mitglied, Weinbauer, Bergsteiger, Skifahrer und Bestseller-Autor. Er war, hundert Jahre später, Ignaz Auer und Eduard Bernstein in einem – sowohl ein Theoretiker als auch ein Praktiker der sozialen Gerechtigkeit; für ihn war »Die neue soziale Frage« die Kernpolitik einer guten Demokratie.
Freunde, Freundschaft, Journalismus
Das ging mir also durch den Kopf, als ich an Geißlers Haustür im Dorf Gleisweiler an der Weinstraße klingelte. Ich begrüßte ihn mit einem »Grüß Gott, Herr Generalsekretär«, obwohl er das schon längst nicht mehr war.
Aber der Titel war und ist ihm, wie ein zweiter Vorname, bis zu seinem Tod im Jahr 2017 geblieben. Aus dem mittäglichen Interviewtermin von eineinhalb Stunden wurde dann ein sehr langer Nachmittag und ein spannender Abend. Das bahnte sich an, als Geißler, trotz des Gipskorsetts, das er damals nach einem Absturz mit dem Drachenflieger trug, in seinen Keller hinunterstieg, um ein paar Flaschen seiner »Gleisweiler Hölle« zu holen; er baute diese Hölle selber an, auf dem kleinen Weinberg hinter seinem Haus.
Es gibt Menschen, bei denen man schon bei der ersten Begegnung ahnt und spürt, dass man sich verstehen wird. Geißler, der ein begnadeter Zuspitzer und ein begnadeter Schlichter war, gehörte zu ihnen. Unser Interview zu aktuellen tagespolitischen Fragen ging über in ein Gespräch über Gott, die Welt und die Zukunft der CDU, die er in seinen zwölf Generalsekretär-Jahren zu reformieren versucht hatte, um aus einem Kanzlerwahlverein eine Programmpartei zu machen, eine Partei der »ökologisch sozialen Marktwirtschaft«, wie er das nannte. Es war dies das erste von vielen langen Gesprächen, die im Lauf der Jahre in Bonn, in Berlin und in München folgten – über Grundfragen der Politik, über Agitation und Polemik, über Taktik und Strategie, über Macht und Machtkämpfe und darüber, was man in der Politik bewegen kann und was Politik mit denen anrichtet, die sie machen.
Zu meinem fünfundfünfzigsten Geburtstag schenkte Geißler mir dann die Neuausgabe eines Buches des Jesuiten und Barockdichters Friedrich Spee aus dem Jahr 1631, aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges; es heißt »Cautio Criminalis« und ist eine Kampfschrift gegen Folter und Hexenwahn. Er schrieb folgende Widmung hinein: »Zwischen Politikern und Journalisten gibt es keine Freundschaft. Wenn es sie gäbe, wären wir Freunde.« Wir sind immer per Sie geblieben, obwohl wir viel miteinander gelacht, gegessen, getrunken und gegrübelt haben.
Ein Stein, den man ins Wasser wirft
»Heribert Prantl schreibt spitz«, hat Winfried Hassemer, Strafrechtsprofessor und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, einmal gesagt. Das stimmt: Ich liebe, wie Geißler das getan hat, die pointierte Zuspitzung, ich liebe den bildhaften Vergleich, ich bin mit Leib und Seele ein Leitartikler und Kolumnist. Ein Kommentar ist ein Diskussionsbeitrag; dessen Kraft hängt sicher auch von der Auflage oder der Reichweite des Mediums ab, in dem er erscheint. Aber das allein ist es nicht. Ein lahmer Kommentar bleibt ein lahmer Kommentar, ob er nun im Sechsämterboten, in den Tagesthemen oder in der Süddeutschen Zeitung publiziert wird. Ein Kommentar soll nicht kaltlassen; er soll anregen oder aufregen; er soll überzeugen oder zum Widerspruch herausfordern.
Natürlich muss ein Kommentator Partei ergreifen – nicht für eine politische Partei, sondern für eine Sache, manchmal auch für eine Person; für die Grundrechte vor allem und im Zweifel: für die Schwachen, für die, die Unterstützung brauchen, die sonst niemand hört. Kommentieren heißt nicht irgendetwas meinen. Der Kommentar ist nicht irgendein Geblubber, der Kommentator schreibt nicht aus dem Bauch, sondern aus dem Kopf und manchmal aus ganzem Herzen. Ein Kommentar ist nicht erst dann gut, wenn er in der morgendlichen Lagebesprechung des Ministeriums zualleroberst liegt. Wenn ein Kommentar Parteigremien beschäftigt, schön. Wenn er beim Frühstück zur Diskussion reizt, ist es besser. Wenn es gar Spaß macht, daraus vorzulesen, ist es am besten. Ob der Leser zustimmt oder ob sich die Leserin am Kommentar reibt, ob der Kommentar also kitzelt oder kratzt – das ist vielleicht gar nicht so entscheidend.
Und im Übrigen: Wenn man als Kommentator gegen den Strom schwimmt, kann man nicht erwarten, dass der Strom deswegen seine Richtung ändert. Ein Leitartikel ist nicht dann demokratisch, wenn er danach trachtet, die Mehrheitsmeinung abzubilden; nichts wäre langweiliger; dann könnte man die Kommentare abwechselnd von Forsa, Civey, der Forschungsgruppe Wahlen oder der KI (ChatGPT) schreiben lassen. Ein Kommentar ist dann demokratisch, wenn er zum Gespräch verhilft. Ein Leitartikel ist wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Er verändert die Qualität des Wassers nicht, zieht aber Kreise.
Fachmännisch einschenken
Und es soll bitte so sein, dass man nach dem Lesen verstanden hat, worum es geht und warum dieses Thema wichtig ist. Wenn ich zwei-, dreimal im Jahr an Journalistenschulen und Presseakademien ein paar Tage lang Unterricht über die Theorie und vor allem die Praxis des Kommentars abhalte, wenn ich dort mit den Seminarteilnehmern den Kommentar übe, Kommentare schreiben lasse und dann ausführlich bespreche, dann erkläre ich das so: »Die Standlfrau vom Viktualienmarkt soll sagen: Jetzt habe ich endlich verstanden, worum es geht. Das ist ja gar nicht so kompliziert, wie ich dachte. Und der Universitätsprofessor soll sagen: Der Prantl hat das sehr komplexe Problem schon sehr vereinfacht, aber es ist erfasst.«
Als Personifikation des Professors kommt mir dann einer wie der kreativ-kauzige Wilhelm Steinmüller in den Sinn, bei dem ich einst Rechtsphilosophie studierte; der Ordinarius war eigentlich Kirchenrechtler, wurde dann Rechtsinformatiker, entwickelte das Konzept der informationellen Selbstbestimmung und war damit ein Pionier des Datenschutzes; später, nach seiner Emeritierung, wandte er sich dann einem ganz anderen Gebiet zu: Er wurde Psychotherapeut und Traumaforscher.
Wenn es mir gelingt, auch von so eigenwilligen Menschen gelesen und goutiert zu werden, sodass sie mir von einer Forschungsreise eine Ansichtskarte schreiben – dann bin ich glücklich und esse vor Freude eine Tafel Schokolade. Und wenn mir ein Leser bei einer persönlichen Begegnung nach einem Vortrag, einer Lesung oder einer Diskussion sagt, dass er zwar eher selten meiner Meinung sei, mich aber immer gern lese – dann ist das ein gutes Weißbier wert. Als der verstorbene Fernseh-Kollege Thomas Leif mich einmal in seine Talksendung nach Berlin zum Streitgespräch eingeladen hatte, durfte ich mir schon vorab ein bestimmtes Getränk wünschen. Ich wählte mein Lieblingsweißbier von der Brauerei Jakob in Bodenwöhr, also aus meiner Heimat. Der Redaktion gelang es tatsächlich, eine Kiste davon nach Berlin zu schaffen, Thomas Leif schaffte es aber nicht, das Weißbier ordentlich einzuschenken, sodass ich live und vor laufender Kamera Gelegenheit hatte, diese Kunst fachmännisch zu zelebrieren. »Fachmännisch einschenken« – das ist, so dachte ich mir da, auch kein schlechtes Motto für den guten Meinungsjournalismus.
Trotz alledem
Aber das Kommentieren allein macht mein Glück im Journalismus nicht aus. Es ist die Begegnung mit Menschen – mit Gelehrten und Ganoven, mit Künstlern und Kanzlern, mit Mächtigen und mit Mutigen, mit starken Frauen und mit ihren Widersachern, mit Widerständlern und Whistleblowern, mit Intriganten und Informanten, mit bekannten und unbekannten Menschen, die etwas angepackt haben, die in ihrer jeweiligen Welt, ob sie groß oder klein war oder ist, Wegweiser gesetzt haben; bisweilen auch falsche.
Ich habe sie interviewt, manche, wie Wolfgang Schäuble, immer und immer wieder und in allen Etappen ihres Berufslebens. Ich habe sie porträtiert – ganz junge wie Greta Thunberg; ganz alte wie Hans-Jochen Vogel; und ganz viele meines Alters wie Angela Merkel.
Nicht immer war der Weg zu ihnen so kurz, aber verschlungen wie zum ehemaligen SPD-Vorsitzenden Hans- Jochen Vogel. Es war so: Man fuhr östlich aus München hinaus, Richtung Eichenried und Moosinning, ließ den Flughafen »Franz-Josef-Strauß« links liegen, brauste vorbei an Langengeisling und Wolferding, an Vilsbiburg und Binabiburg, an Frauenhaselbach und Scherzthambach, fuhr bei Eggenfelden nicht Richtung Wurmannsquick, sondern nach Pfarrkirchen, Brambach und Hirschbach und kam dann nach Bad Birnbach. Dort angelangt war man immer noch nicht so weit, bei ihm am großen Holztisch Platz zu nehmen. Dann verließ einen nämlich das Navigationssystem und man war darauf angewiesen, einen Einheimischen zu finden, den man nach dem Weg zu Herrn Doktor Vogel fragen konnte.
Ein paar Kilometer rumpelte man dann durch Wiesen und Auen und auf einmal stand man dann vor einem Obstgarten und einem gepflegten alten Bauernhaus, in dem er jahrzehntelang seine Freizeit verbrachte. Hierher hatte einst, in den Jahren des RAF-Terrors, der Personenschutz den Bundesjustizminister Vogel begleitet, hier hatte er sich von seinen Niederlagen erholt, und das waren nicht wenige. Die Kopie eines Zettels, den ihm einst Herbert Wehner nach seiner Wahlniederlage gegen Richard von Weizsäcker in Berlin geschrieben hatte, klebte ein paar Jahre lang an meiner Bürotür: »Trotz alledem: Weiterarbeiten und nicht verzweifeln.«
Auszug aus dem Vorwort von „Mensch Prantl“ von Heribert Prantl