„Letzte Chance für sichere Energien“

Leseprobe Claudia Kemfert benennt die Verantwortlichen für die verfahrene Situation. Es bleibt ein kleines Zeitfenster, um durch entschlossenes Handeln unsere Energieversorgung zu sichern und gleichzeitig Demokratie, Wohlstand und Zusammenleben zu stützen
„Vier bis fünf Windräder täglich“ plant Olaf Scholz bis 2030
„Vier bis fünf Windräder täglich“ plant Olaf Scholz bis 2030

Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Vorwort

Schockwelle auf Schockwelle: Kriegsschock, Energieschock, Preisschock, Inflationsschock, Klimaschock. Wir stecken mitten in einem fossilen Krieg, der jetzt ins Finale geht. Der Showdown des fossilen Zeitalters beginnt. Die Kräfte der Vergangenheit kämpfen ihre letzte Schlacht gegen die Kräfte der Zukunft. Es kämpft Autokratie gegen Demokratie. Es kämpft die Tyrannei eines oligopolistischen Imperiums, dem es nur um eins geht, nämlich um sich selbst, gegen die Freiheit der Medien, der Wissenschaft, der Menschen. Es kämpfen Menschen, die wollen, dass die Welt ihnen gehört, gegen Menschen, die wollen, dass die Welt allen gehört. Es kämpft die Lüge gegen die Wahrheit.

Wie furchtbar, dass es so weit kommen musste! Das Land fährt an die Wand. Den Leuten geht es schlecht. Den Armen noch schlechter. In der Ukraine sterben Menschen. Es ist das absolute Horrorszenario.

Aber jetzt sind alle wach. Jetzt wird alles gut. Jeder kümmert sich. Der eine kauft sich ein Balkonkraftwerk, die andere fährt freiwillig nur noch Tempo 100. Ein Dritter installiert eine Wärmepumpe, eine Vierte steigt aus dem Flugzeug aus und fährt mit der Bahn. Im Prinzip ist das die richtige Idee: Wir sind alle ein Teil der Lösung. Jeder und jede Einzelne ist gefordert, einen relevanten Beitrag zu leisten.

Doch leider passiert vieles nur sehr kurzsichtig: Leute kaufen in Panik Heizlüfter und Kaminholz; mancher sogar schnell noch eine neue Gasheizung. Deutschland schließt neue Gasverträge und baut Flüssiggas-Terminals. Eine echte Abkehr von fossiler Abhängigkeit sähe anders aus. Besonders ärgerlich ist, dass die Politik sich nicht traut, dem Volk etwas zuzumuten. Und der SUV-Fahrer denkt: »So schlimm kann’s nicht sein, sonst wäre mein Auto längst verboten.« Statt jetzt endlich zu tun, was zu tun ist, geben wir den Schwarzen Peter weiter und hoffen, dass es schon gut ausgehen wird.

So kommt es, dass immer neue Schockwellen die Welt in Angst und Schrecken versetzen, während die fossile Wirtschaft freudig Geschäfte macht und eimerweise das Geld der Verbraucher:innen in eine Maschinerie schüttet, die eben diese Schockwellen verursacht.

Es ist zum Haareraufen: Muss der Laden erst völlig an die Wand fahren, damit alle verstehen, was los ist? Warum muss erst die Katastrophe passieren? Warum handeln wir immer nur reaktiv und nicht präventiv?

Ich bin nicht die Erste und auch nicht die Einzige, die vieles hat kommen sehen. Ich habe davor gewarnt und Vorschläge gemacht, was besser zu tun wäre. Warum ich mir bei alledem so sicher war und bin? Weil ich mich seit 25 Jahren als Wissenschaftlerin mit nichts anderem beschäftige als mit Wirtschaft, mit Energie, mit Klima- und Umweltschutz, mit Politik – und auch mit Russland!

Wie oft habe ich in all den Jahren erlebt, mit welch absurden Argumenten und wie arrogant und ignorant wissenschaftliche Fakten attackiert, verdreht oder ins Lächerliche gezogen wurden. Wie oft musste ich machtlos ertragen, wie Falschbehauptungen und Populismus politische Entscheidungen beeinflusst und uns letztendlich in diesen entsetzlichen Schlamassel geführt haben.

Wie konnte es so weit kommen?

Seit der Renaissance, dem Beginn der modernen evidenzbasierten Wissenschaft, ist die Zahl an Universitäten, Hochschulen, Instituten, Laboren und Forschungseinrichtungen jeglicher Art stetig gewachsen. Einsame Denkerstübchen sind zu weltumspannenden Denkfabriken geworden, mit einem enormen Output, der nicht nur an Quantität, sondern auch an Qualität exponentiell zugenommen hat. Wurde ein Goethe noch als Universalgelehrter gefeiert, so haben wir 200 Jahre später so viel Wissen, dass ein einzelner Mensch es nicht mehr erfassen kann. Genau das wird jetzt zum Problem. Weil es so viel mehr Wissen gibt, als wir individuell verstehen und begreifen können, müssen wir vertrauen. Oder, wie manche sagen, »glauben«. Aber dieses »Glauben«, das so harmlos daherkommt, ist in Wahrheit ein Begriff der Wissenschaftsfeinde.

Nein, wir glauben nicht. Wir wissen.

Anders als die von Gott auserwählten Kaiser und Könige aus vordemokratischer Vergangenheit behaupten wir nicht, qua göttlicher Eingebung zu einer Erkenntnis gekommen zu sein. Nein, unser heutiges Wissen ist kein aristokratisches Privileg. Uns wird nicht nachts im Traum eine Botschaft von einer spirituell höheren Macht eingeflüstert. Die Erkenntnisse werden auch nicht mit autoritärer Gewalt dem Volk als alleinige Wahrheit übergestülpt.

Nein, unser wissenschaftliches Wissen ist in einem demokratischen, transparenten Verfahren bei Licht des Tages gewachsen. Es wird laufend hinterfragt und überprüft. Dieses Wissen wird einer interessierten bürgerlichen Weltgemeinschaft kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Menschen können darauf aufbauend in freier und fairer Abstimmung miteinander die Schlüsse ziehen, die ihren Werten entsprechen. Auf diese Mechanismen freier Wissenschaft in einer demokratisch geregelten Welt können wir vertrauen.

Das Zusammenspiel von Wissenschaft und Demokratie hat die einstige Allianz von Monarchie und Religion aufgebrochen und ersetzt. Die Aufklärung wurde zum Auftakt einer demokratischen Bewegung, die ihren Weg noch immer nicht abgeschlossen hat. Die Beharrungskräfte des alten Blut-Adels sind stark. Aber die Befreiungskräfte der Menschen sind stärker.

Die heutige Wissenschaftsfeindlichkeit entspringt eben nicht dem Drang nach Aufklärung und Befreiung. Sie entspringt ganz im Gegenteil einer autoritären und nach Großmacht strebenden Kraft. Sie behauptet lediglich, den Menschen zu dienen, während sie den Planeten plündert und den Menschen eine neue Erbschuld auferlegt, die über Generationen abgezahlt werden muss. Das fossile Imperium ist ein gewaltiges Geflecht, das sich um den gesamten Globus spannt. Es sind nicht die Russen, die Amerikaner, die Saudis. Es sind die Fossilen.

Diese Macht hat nicht den einen Stellvertreter Gottes auf Erden, keinen heiligen Vater, vor dem alle niederknien, kein kirchliches Oberhaupt, sondern viele Köpfe – wie Hydra, der Wasserdrachen aus der antiken Mythologie. Hydra war die Schwester von Kerberos, dem Höllenhund, von Chimäre, deren Name zum Synonym für Hirngespinste und Trugbilder geworden ist, und von der Sphinx, jenem Dämon der Zerstörung und des Unheils. Was für eine mafiöse Familie!

Gegen Hydra im Kampf zu gewinnen war schier unmöglich. Immer wenn ein Kopf abgeschlagen wurde, wuchsen zwei neue nach. Erst Herkules, ein Mensch mit übernatürlichen Kräften, fand einen Weg, das Ungeheuer zu töten. Er tat es nicht allein. Er hatte seinen Neffen Iolaos an seiner Seite, der ihn als Wagenlenker bei der Bewältigung aller seiner Aufgaben begleitete. Gemeinsam gelang ihnen der Sieg über Hydra: Sobald Herkules mit seiner Keule einen Kopf abgeschlagen hatte, griff Iolaos zur Fackel und brannte den enthaupteten Hals aus, damit kein neuer Kopf nachwachsen konnte.

Warum ich das erzähle? Weil ich vor vielen Jahren bei der Neujahrsfeier des Bundesverbandes Erneuerbarer Energien (BEE) eine Keynote mit den Worten begonnen habe: »Die Energiewende ist eine gewaltige Aufgabe. Man könnte sagen: eine Herkules-Aufgabe. Zum Glück hat Deutschland jetzt endlich einen Energieminister. Aber ist der auch ein Herkules?«

Der damalige Energieminister, so kam mir später zu Ohren, habe sich durch meine Rede verspottet gefühlt und sei, obwohl er die ursprüngliche Einladung abgesagt hatte, spontan noch auf der Jahresfeier erschienen, um dort ordentlich über mich herzuziehen. Nun denn, ich hatte es ernst gemeint und wollte niemanden verspotten.

Die Energiewende ist eine Herkulesaufgabe. Und wir müssen verstehen, dass niemand sie im Alleingang bewältigen kann. Denn diese Herkulesaufgabe hat mehr zum Ziel als das Ende der fossilen Energien. Es geht um eine sozial-ökologische Marktwirtschaft, die sich in rechtsstaatlich organisierter Gewaltenteilung transparent selbst kontrolliert und permanent erneuert. Es geht um ein faires und fürsorgliches Miteinander. Um Demokratie. Um Freiheit. Um Frieden.

Ich bin keine Kämpferin, aber ich stehe gern helfend bereit, um mit dem Feuer der Wissenschaft den halsstarrigen Hohlköpfen der fossilen Hydra den Garaus zu machen. Wer auch immer aufbricht, um den Kampf gegen den angeblich unbesiegbaren Drachen zu führen – ich werde nicht den Wagen lenken, aber gern den Blick. Und meine Fackel wird hoffentlich hell genug leuchten, damit die vielen Drachenköpfe deutlich zu erkennen sind.

Mit diesem Buch möchte ich den Blick auf die Vergangenheit öffnen, um die Gegenwart besser zu beleuchten. Die letzten 20 Jahre habe ich als Zeitzeugin miterlebt. Meine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen können hoffentlich dazu beitragen, die Herausforderungen der Zukunft erfolgreicher anzugehen. Ohne eine ehrliche Aufarbeitung vergangener politischer und ökonomischer Entscheidungen wird es keinen kraftvollen Neustart geben.

Deswegen gehe ich in diesem Buch den Schockursachen auf den Grund: Für die Gesellschaft war der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine Art von Erwachen aus einem jahrelangen Dornröschen-Schlaf, für die Wissenschaft nicht.

Energie ist eine Waffe in Putins Masterplan. Was heute so offensichtlich ist, war schon früh als Muster erkennbar. Die Wissenschaft warnte, aber die Politik wollte nicht sehen. Stattdessen wurden falsche Lehren und Schlüsse gezogen – und das, obwohl es schon viele Lösungsansätze gab, die aufgrund anderer Schockwellen bereits im Entstehen waren.

Wieso wussten manche schon so viel früher, was uns erwartete? Wann begann die Abhängigkeit von Russland, wieso haben wir Putin so sehr vertraut, und welche Rolle spielten Wirtschaft und Politik dabei? Hat Angela Merkel als Physikerin das Energieproblem und die Abhängigkeit von Russland wirklich nicht verstanden? Gerhard Schröder jedenfalls war ganz sicher nicht bloß gutgläubig und naiv.

Mächtige und finanzstarke Verhinderer haben die Energiewende strategisch blockiert. Das ist kein rein deutsches Problem. Lobbygruppen und Konzerne beeinflussten gezielt Politik und öffentliche Meinung und beschädigten damit die Grundfesten der Demokratie. Die verantwortlichen Politiker:innen haben bis heute nicht aus den Fehlern gelernt. Brückentechnologien jedenfalls benötigen wir keine mehr. Auch vor einer Deindustrialisierung brauchen wir keine Angst zu haben. Wir müssen nur endlich den Fuß von der Energiewende-Bremse nehmen.

Politik und Bevölkerung, also wir alle, haben es in der Hand, uns aus der fatalen Schockstarre zu lösen und effektive Bewältigungsstrategien der multiplen Krisen in Angriff zu nehmen. Die Energiewende ist mehr als ein simpler Wechsel der Energiequelle. Sie ist unsere letzte Chance für sichere Energien und Frieden.

Berlin/Oldenburg im Winter 2022/2023

15.02.2023, 16:26

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