Leseprobe : Die Kraft der Kooperation

Kooperation gestaltet die Welt – darin liegt unsere Zukunft. Davon ist Dirk Brockmann überzeugt. Er entwirft ein beeindruckendes Panorama der Natur: was sie in Jahrmilliarden erfunden hat und was sie über die Kunst der Zusammenarbeit weiß

Gemeinsam stark: Zebras schützen sich in der Herde – ein Beispiel für die Kraft der Kooperation in der Natur

Foto: TONY KARUMBA/AFP via Getty Images

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Survival of the Nettest

Survival of the Nettest

Dirk Brockmann

Hardcover, gebunden

288 Seiten

24 €

In Kooperation mit DTV Verlag 2025

Survival of the Nettest

Außerirdische Perspektiven

Wer Yin sieht, muss auch Yang sehen

Stellen Sie sich vor, Sie sind Mitglied einer außerirdischen Intelligenz. Ihre extraterrestrische Kultur ist fortgeschritten und technologisch in der Lage, weit entfernte Sonnensysteme zu besuchen und zu erforschen. Sie sind Teil eines Expeditionsteams, das unser Sonnensystem erreicht und aus sicherer Distanz inspiziert. Einer der Planeten weckt Ihre Neugier: die Erde, die anders als die anderen mit einer Biosphäre ausgestattet ist. Sie lebt. Sie justieren Ihre Teleskope, Messgeräte und Sensoren und protokollieren, dass sehr viele, außerordentlich unterschiedliche Lebensformen zu beobachten sind. Sie werden schnell zu dem Schluss kommen, dass sich alles Leben grob in drei Kategorien einteilen lässt: Der überwältigende Teil, ca. 80 Prozent der sichtbaren Biomasse an Land, ist grün. Als hoch entwickelter Alien werden Sie sofort auf photosynthetische Aktivität schließen, also die Nutzung des Sonnenlichts als Energiequelle. Sie werden auch notieren, dass diese Lebensformen meist tief im Boden verankert sind. Bei genauerer Untersuchung dieser Wurzeln entdecken Sie die zweite, etwas unscheinbare und rätselhafte Klasse von Lebensformen, die den Boden mit netzwerkartigen, fadenförmigen Strukturen durchziehen. Vereinzelt wachsen aus ihnen stielartige, mit Hüten versehene Organe, die aus den Böden ausbrechen und kleinste Partikel an ihr Umfeld abgeben. Auch diese Klasse von Organismen scheint extrem divers. Offenbar betreiben diese Lebensformen keine Photosynthese. Sie verstehen zunächst nicht, wie diese Organismen sich ernähren, und so beschäftigen Sie sich lieber mit der dritten Kategorie von Lebewesen. Vertreter dieser Gattungen sind agil, sie bewegen sich und kommen in fantastischen Formen und Größen vor. Sie reagieren schnell auf Reize, und einige Spezies besitzen Extremitäten zur Fortbewegung, andere können sogar fliegen, viele leben an Land, aber noch viel mehr in den Meeren, die einen Großteil der Erdoberfläche ausmachen.

Als Außerirdischer werden Sie das irdische Leben in diese drei Reiche – Pflanzen, Pilze und Tiere – aufteilen. Wir nehmen einmal an, dass Ihre Instrumente nicht ausreichen, um aus dem All das mikrobiologische Leben der Erde, Bakterien, Archaeen, Viren, Einzeller, zu erfassen. Die Tiere, die so diverse Verhaltensweisen an den Tag ­ legen, haben es Ihnen besonders angetan. Offenbar sind sie, wie die Pilze, nicht in der Lage, Energie aus dem Sonnenlicht zu gewinnen. Um an Energie zu kommen, fressen sie andere Tiere, Pflanzen oder Pilze. Viele Tiere haben zwei Öffnungen, eine zur Nahrungsaufnahme und am anderen Ende eine für Ausscheidungen. Außerdem besitzen die meisten Arten symmetrische Körper, sie haben eine fast identisch gespiegelte linke und rechte Seite. Sie notieren allerdings auch einige Ausnahmen von dieser Regel.

Nach längerer Beobachtung fällt Ihnen eine Tierart besonders auf. Vertreter dieser Art kommen in verschiedenen Farbnuancen vor (hell, dunkel, bräunlich, rötlich, ocker, gelblich etc.), haben in etwa die gleichen Proportionen und ein ähnliches Erscheinungsbild. Die Art lebt offenbar nur an Land, sie kommt außerordentlich zahlreich überall auf dem Planeten vor und hat unterschiedliche, hochkomplexe Sozialstrukturen, Kolonien und Gemeinschaften entwickelt.

Sie beobachten, wie sich zwei Individuen gegenüberstehen und Informationen austauschen, Kommunikation scheint bei dieser Art hoch entwickelt und ein elementarer Teil des sozialen Gefüges zu sein. Sie kommen zu der Erkenntnis, dass diese Lebensform eine Art Zivilisation ausgebildet hat. Hier und da leben diese Tiere in kleineren Gruppen von einigen Hundert oder Tausend, aber auch in sehr großen Kolonien mit vielen Millionen Individuen auf engstem Raum. Alle gehen eilig ihrem Tagesgeschäft nach. Die Art hat Staatsstrukturen, die sich oft über große Distanzen ausdehnen und viele Kolonien vereinen. Es wird ­ Ihnen klar, dass innerhalb der Kollektive einzelne Gruppen oder Individuen unterschiedliche Aufgaben lösen und verschiedenen Aktivitäten nachgehen. Gerade in besonders großen Kolonien scheint die Aufgabenteilung hochdifferenziert, verschiedene Rollen und stark ausgeprägte soziale Hierarchien halten eine Ordnung aufrecht. Auch technologisch ist die Art viel weiter als andere Lebensformen. Komplexe Gebäudestrukturen, Straßen und Transportsysteme sind zu ­ erkennen. Es gibt eine organisierte Müllabfuhr, Friedhöfe für die Verstor­ benen, Kranke werden versorgt und gesund gepflegt. Um Heranwachsende kümmern sich nicht nur die leiblichen Eltern, sondern auch ­ andere, speziell dafür ausgebildete Individuen. Besonders fasziniert Sie die Wechselwirkung dieser Spezies mit anderen Lebensformen des Planeten. Die Spezies pflegt aufwändige Gärten, betreibt Landwirtschaft und Viehzucht, sie hält sogar Haustiere, die spazieren geführt oder herumgetragen werden, wie Sie amüsiert beobachten.

Praktisch in allen Gesellschaften und Staaten dieser Lebensform spielt das Militär eine wichtige Rolle. Sie sind entsetzt, als Sie feststellen müssen, dass die Art trotz der bisher notierten zivilisatorischen Errungenschaften außerordentlich aggressiv ist und Krieg führt. In Feldzügen zwischen verschiedenen Kolonien werden oft keine Gefangenen gemacht, sondern die feindlichen Truppen niedergemetzelt. Kriege gegen die eigenen Artgenossen hatten Sie bisher bei keiner anderen Tierart beobachtet. Oft geht es bei diesen gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Erweiterung des eigenen Territoriums und Invasion in benachbarte Staaten. Überfallartig dringen riesige Heere von Zehn- bis Hunderttausenden Individuen in andere Gebiete ein und zerstören alles, was ihnen im Wege steht. Oft wird bei diesen Überfällen die Brut der Opferkolonie entführt, vereinzelt beobachten Sie Sklaverei, und sogar Selbstmordattentäter entdecken Sie, die sich in feindlichem Territorium in die Luft sprengen. Allerdings registrieren Sie auch, wie gesunde Krieger Verletzte der eigenen Armee zurück in ihr eigenes Terrain bringen, um sie dort zu versorgen. Das alles würden Sie, die außerirdische Intelligenz, bei der Rückkehr zu Ihrem Heimatplaneten von der Erde, dem Planeten der Ameisen, berichten.

Ich hoffe inständig, dass Sie beim Lesen in meine kleine Falle getappt sind. Obwohl die Beschreibung sicher auch auf uns Menschen als Spezies passt, ist sie nicht weniger treffend für diverse Ameisen­ arten. Wanderameisen führen brutalste Invasionskriege, Blattschneiderameisen pflegen riesige Pilzgärten, die sie mit Pflanzenfutter (sogar mit Antibiotika) versorgen, andere stehlen die Brut konkurrierender Arten und versklaven sie, viele Ameisen kümmern sich um ihre Kranken, halten Haustiere und ja, sogar explodierende Selbstmordattentäterinnen gibt es. Zu viel will ich an dieser Stelle noch nicht verraten, doch es lohnt sich weiterzulesen.

Die Expedition des Außerirdischen soll zweierlei verdeutlichen. Zum einen, dass es aufschlussreich ist, neue Perspektiven einzunehmen, zum anderen, dass wir dabei unsere anthropozentrische Brille absetzen sollten, damit kein verzerrtes Bild entsteht und wir neutral beobachten können.

Meines Erachtens haben wir neue Perspektiven bitter nötig. Wir sind gut beraten, wenn wir uns als Individuen wie in Gruppen mehr Mühe geben, die Sichtweisen anderer nachzuvollziehen. Wir leben in einer krisenbehafteten Zeit, in der Bevölkerung wächst die Angst vor den Folgen der Klimakatastrophe, vor weiteren Kriegen und massiven Migrationsprozessen, vor der Destabilisierung westlicher Demokratien, vor dem zunehmenden Einfluss von Autokraten und dem scheinbar unaufhaltsamen Rechtsruck. Wie kann es gelingen, angemessen auf diese Krisen zu reagieren, neue Antworten zu formulieren oder innovative Lösungen zu entwickeln? Vermutlich nicht durch die Optimierung alter Rezepte und in der Vergangenheit bewährter Methoden. Es ist mitunter frustrierend, dass in der Politik immer wieder die gleichen, dabei gegensätzlichen Lösungsstrategien vorgeschlagen werden: Individualismus gegen Kollektivismus, freier Markt gegen staatliche Regulation, das Recht des Einzelnen gegen das Recht der Gemeinschaft.

Interessanterweise kann man dabei immer wieder beobachten, wie Gesellschaftsformen und politische Richtungen sowie Lösungsvorschläge durch vermeintlich fundamentale und erfolgreiche Prozesse der Natur begründet werden. Wettbewerb ist ein gutes Beispiel. Wettstreit ist ohne Zweifel ein wichtiges Prinzip der Natur – Survival of the Fittest, Struggle for Life, Wettbewerb belebt das Geschäft. Wettkampf ist die treibende Kraft natürlicher Auslese, so weiß man seit Darwin. Durch Wettbewerb werden erfolgreiche Prozesse, Konzepte und Ideen selektiert, sie setzen sich durch, weil sie besser funktionieren, agiler adaptieren und die Gesamtsituation verbessern. Durch Wettbewerb werden die besten Lösungen gefunden, Innovation wird durch Wettbewerb erzeugt.

Das ist im Grundsatz zwar nicht falsch, aber unvollständig. Es fehlt die Hälfte. Vielleicht sogar etwas mehr. Natürlich sind die Schlüsselmechanismen der Darwin’schen Evolutionstheorie in der Natur wirksam und zentral: der Wettstreit um Ressourcen, die fan- tastischen Optimierungen verschiedener Arten auf ihre Umgebung, die ihren Erhalt gewährleisten. Allgegenwärtig ist Darwins »Struggle for Life« – der Kampf ums Überleben. Ohne ihn hätte sich Leben auf der Erde nicht entwickelt. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Wenn man na- türliche Evolutionsprozesse genauer unter die Lupe nimmt (besser funktioniert ein Mikroskop), ergibt sich ein vollständigeres Bild der fundamentalen Prozesse und Eigenschaften der Natur. Neue Er- kenntnisse, Technologien und Messmethoden insbesondere in der Mikrobiologie, der Ökologie, der Biodiversitätsforschung und der Virologie haben dazu beigetragen. Zum einen wird klar, dass die Bio- sphäre neben der fortschreitenden Evolution, dem ewigen Kommen und Gehen einzelner Spezies, durch sehr stabile »Design«-Prinzipien gekennzeichnet ist. Diese Designs veränderten die Biosphäre nachhaltig und irreversibel. Fast ausnahmslos sind diese natürlichen Innovationen außerordentlich resilient und robust, sie überdauerten Jahrmilliarden und existieren heute noch. Viele dieser »Erfindungen«* der Evolution werden wir in den nächsten Kapiteln kennenlernen, die meisten haben diverse Eis- und Heißzeiten der Erdgeschichte, verschiedenste Atmosphären, Weltklimazustände und Biosphären überlebt.

Außerdem liefert die Wissenschaft immer mehr Evidenz, dass ­ neben den klassischen Mechanismen der Darwin’schen Evolutionslehre – Konkurrenz und Survival of the Fittest – enge Symbiosen unter den Lebewesen die Biosphäre dominieren. Kooperative Symbiosen sind zwar den meisten geläufig, wir kennen sie zwischen Bienen und Blütenpflanzen und haben Bilder von Vögeln vor Augen, die in geöffneten Mäulern von Krokodilen sitzen und sie von Parasiten befreien. Für gewöhnlich werden diese Symbiosen allerdings als biologisches Nischenphänomen betrachtet, als Spielerei und Ausnahme von der Regel bezüglich Konkurrenz und Wettstreit.

Immer mehr verfestigt sich jedoch ein anderes Bild biologischer und ökologischer Systeme: Kooperative Symbiosen sind die Regel, nicht die Ausnahme. Kein Tier, keine Pflanze kommt ohne sie aus. Und das war schon immer so. Alle komplexen Lebewesen stehen in engen, kooperativen Symbiosen mit Hunderten, manchmal Tausenden Arten von Mikroorganismen. Kooperative Verbindungen zwischen Lebewesen sind tiefgreifend, elementar und allgegenwärtig, sie bilden das Fundament des Lebens, wie mittlerweile erkannt wird. Typischerweise haben neue, symbiotische Beziehungen in der Erdgeschichte zu Innovationen geführt und neue Designs hervorgebracht. Konkurrenz und Kooperation sind in diesem erweiterten Bild keine antagonistischen Kräfte in der Evolution. Vielmehr ergänzen sie sich. Während Konkurrenz und Wettbewerb zwischen ähnlichen Akteuren graduell optimieren, liefert Kooperation unterschiedlichster Organismen Innovationen, ganz neue Strukturen und oftmals ­ rapide, irreversible Veränderungen.

Weil wir in unserem Denken aber immer noch stark durch die klassischen Elemente der Darwin’schen Evolutionslehre geprägt sind und dazu neigen, Konkurrenz und Wettbewerb als primäre Mechanismen zu verstehen, die auf die Schnelle dringend notwendige Lösungsansätze für die drängenden Fragen unserer Zeit liefern, liegt der Fokus hier auf der anderen, eher unbekannten Seite der Medaille. Survival of the Nettest ist ein Buch über die kooperativen Innovationskräfte der Natur. Es dient dem Ziel, die Wahrnehmung grundlegender Prozesse der Natur zu erweitern und in der Folge besser zu verstehen, wie die Natur Neues hervorbringt. Kooperation wird dabei nicht als wichtigstes Naturgesetz postuliert und in Opposition zu Darwin und zur Konkurrenz gestellt. Vielmehr wird in den folgenden Kapiteln anhand vieler Beispiele und hoffentlich unbekannter Perspektiven erklärt, wie diese beiden Kräfte ineinandergreifen und unterschiedliche Beiträge zu evolutionären Prozessen liefern.

Die Probleme und Krisen unserer Zeit lassen sich nicht mehr durch graduelle Optimierung oder mit etablierten Rezepten lösen. Wir brauchen Innovation. Aber diese lässt sich nicht durch das klassische Mantra »Innovation durch Wettbewerb« herbeiorakeln. Wenn wir die Natur als Lehrmeisterin akzeptieren, müssen wir auf Kooperation und Diversität setzen.

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