Der Sieg der Natur über den Kapitalismus

Leseprobe Der Kapitalismus ist nicht zukunftsfähig. Wenn wir glauben, die Welt durch nachhaltigen Konsum vor der Klimakatastrophe zu retten, betrügen wir uns selbst, sagt der japanische Philosoph Kohei Saito
Fluten, Dürren und Brände zerstören die Lebensgrundlage zahlloser Menschen
Fluten, Dürren und Brände zerstören die Lebensgrundlage zahlloser Menschen

Foto: SAI AUNG MAIN/AFP via Getty Images

Die Ziele für nachhaltige Entwicklung sind das Opium des Volks!

Vorwort

Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung? Benutzen Sie nun auch eine eigene Einkaufstasche, um den Verbrauch von Plastiktüten zu reduzieren? Und anstatt Getränke in PET-Flaschen zu kaufen, tragen Sie Ihre eigene Flasche mit sich herum? Sind Sie auf ein Elektroauto umgestiegen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Diese guten Absichten alleine sind sinnlos. Im Gegenteil, sie könnten vielleicht sogar schädlich sein. Aber wieso?
Der Glaube, dass der Erfolg im Kampf gegen die Erderwärmung davon abhängt, wie viel jeder Einzelne von uns tut, hält uns davon ab, die für die heutige Zeit wirklich wichtigen und mutigen Taten zu vollbringen. Er fördert stattdessen ein Konsumverhalten, das wie ein Ablasshandel funktioniert, um das Gewissen zu entlasten und die Augen vor der Realität der Krise weiter verschließen zu können. Das Kapital heuchelt uns
Sorge um die Umwelt vor, und wir fallen auf dieses Greenwashing auch noch herein.
Aber sollte es nicht möglich sein, mit den »Zielen für nachhaltige Entwicklung« (Sustainable Development Goals,
SDG) etwas für die globale Umwelt zu bewirken, schließlich werden die SDGs ja von der UNO propagiert und von allen Regierungen sowie großen Unternehmen gefördert? Eigentlich nicht. Selbst wenn Regierungen und Großunternehmen den SDG-Aktionsplan befolgen würden, ließe sich damit der Klimawandel nicht aufhalten. Die SDGs sind nämlich nur eine Art Alibihandlung mit dem einzigen Zweck, die Dringlichkeit der Krise zu verschleiern.

Marx hat Religionen einst als »Opium des Volkes« kritisiert, da sie die brutalen Auswüchse der kapitalistischen Realität nur abfedern. Und tatsächlich sind SDGs die neuzeitliche Version davon. Zuallererst müssen wir uns der Realität stellen, dass wir den Zustand der Erde unwiederbringlich verändert haben. Da der Einfluss des Menschen auf den Planeten so dermaßen groß ist, behauptete der Chemienobelpreisträger Paul J. Crutzen, dass geologisch gesehen ein neues Zeitalter über die Erde hereingebrochen sei, das sogenannte Anthropozän. Ein Zeitalter, in dem die Spuren menschlichen Wirkens die gesamte Erdoberfläche bedecken.

Und das ist wörtlich zu verstehen: Die Erde ist bedeckt von Gebäuden, Fabriken, Straßen, Ackerland und vielem mehr. In ihren Ozeanen schwimmen große Mengen Mikroplastik umher, und künstliche, vom Menschen erschaffene Objekte verändern ihre Ökosysteme in hohem Maße. Zu sehen ist das vor allem am vom Menschen verursachten dramatischen Anstieg des Kohlendioxids. Wie Sie wissen, ist Kohlendioxid ein Treibhausgas. Treibhausgase absorbieren die Infrarotstrahlung der Sonne und erwärmen die Atmosphäre – man nennt das auch Treibhauseffekt. Dank ihm wurde die Erde über eine lange Zeit auf einer Temperatur gehalten, die es Menschen und anderen Lebewesen ermöglichte zu leben.

Seit der industriellen Revolution verbraucht der Mensch jedoch massiv fossile Brennstoffe wie Steinkohle und Erdöl, die gewaltige Mengen an Kohlendioxid ausstoßen. Hatte die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre vor der industriellen Revolution bei 280 Parts per million (Anteile pro Million, ppm) gelegen, überschritt sie 2006 in der Antarktis zum ersten Mal seit vier Millionen Jahren die Marke von 400 ppm. Und dieser Wert steigt weiter an.

Im Pliozän, also vor vier Millionen Jahren, war die Durchschnittstemperatur um zwei bis drei Grad Celsius höher als heute, das Eisschild der Antarktis und Grönlands war geschmolzen, und auch der Meeresspiegel war um zumindest sechs Meter höher, wobei einige Studien auch von einer Höhe von zwanzig bis dreißig Metern ausgehen. Wird der Klimawandel im Anthropozän, sofern er sich fortsetzt, also zu ähnlichen globalen Umweltbedingungen führen wie damals? Ungeachtet der Antwort steht fest, dass die menschliche Zivilisation mit einer Krise ihres Fortbestands konfrontiert ist.

Das Wirtschaftswachstum der Moderne versprach uns ein Leben im Wohlstand. Jedoch wird durch die Umweltkrise des Anthropozäns klar, dass es ironischerweise gerade das Wirtschaftswachstum ist, das die Grundlagen des menschlichen Wohlstands untergräbt.

Selbst wenn der Klimawandel rapide voranschreitet, werden Superreiche in den Industrieländern ihr ausschweifendes Leben wie gehabt fortsetzen können. Das Alltagsleben von uns Normalbürgern erlaubt uns solche Freiheiten aber nicht, wir werden unsere bisherige Lebensweise verlieren und verzweifelt nach neuen Möglichkeiten zum Überleben suchen müssen. Eine schmerzliche Wahrheit, die wir während der Corona-Pandemie realisiert haben. Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen nach einer radikalen Neubetrachtung des bisherigen Zustands, der die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert und die Umwelt zerstört. Der Vorschlag des Davoser Weltwirtschaftsforums (WEF) für einen »Great Reset« könnte als Symbol dafür angesehen werden.

Den Planeten für die Zukunft zu retten bedeutet, ihn nicht nur Politikern und Experten zu überlassen. Eine »Macht ruhig mal«-Einstellung würde den Superreichen letztlich nur in die Hände spielen.

Wenn wir uns für eine bessere Zukunft als die gerade beschriebene entscheiden wollen, müssen jede Bürgerin und jeder Bürger als Betroffene aufstehen, ihre Stimme erheben und aktiv werden. Wenn wir allerdings einfach nur blindlings drauflosschreien und ziellose Aktionen durchführen, werden wir damit bloß Zeit vergeuden. Der springende Punkt ist, mit der passenden Strategie die richtige Richtung einzuschlagen.

Dazu müssen wir erst einmal die Ursachen des Klimawandels zurückverfolgen, und die liegen in nichts Geringerem als dem Kapitalismus. So begann die Zunahme des Kohlendioxidausstoßes erst mit der industriellen Revolution, oder anders gesagt – als der Kapitalismus so richtig in Fahrt kam. Kurz darauf gab es jemanden, der sehr gründlich über das Kapital nachdachte: Karl Marx.

Das vorliegende Buch analysiert die Verflechtung von Kapital, Gesellschaft und Natur im Anthropozän und beruft sich dabei gelegentlich auf ›Das Kapital‹ von Marx. Selbstredend habe ich keinesfalls die Absicht, den Marxismus der Vergangenheit einfach aufzuwärmen und aufzuarbeiten. 150 Jahre haben Marx’ Anschauungen vor sich hingeschlummert, ich möchte sie neu entdecken und weiterentwickeln.

Mit diesem »Systemsturz« könnten unsere Fantasie und Vorstellungskraft befreit werden, damit wir im Zeitalter der Klimakrise eine bessere Gesellschaft erschaffen.

Der Klimawandel und die imperiale Lebensweise

Die Schuld des Wirtschaftsnobelpreises

Das Fachgebiet von William D. Nordhaus, seines Zeichens Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 2018 und Professor an der Yale-Universität, sind die wirtschaftlichen Aspekte des Klimawandels. Möglicherweise wird in unserer modernen, mit der Klimakrise kämpfenden Gesellschaft die Tatsache, dass so jemand den Nobelpreis verliehen bekam, als eine gute Neuigkeit angesehen. Und trotzdem haben einige Klimaaktivisten harte Kritik daran geäußert.[1] Doch wieso? Der Grund war ein von Nordhaus im Jahr 1991 veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel, der Anfang einer Reihe von Studien, die ihm schließlich den Nobelpreis einbrachten.[2] 1991 war einerseits das Jahr, in dem der Kalte Krieg zu Ende ging, und gleichzeitig der Vorabend einer globalisierten Wirtschaft, die die Kohlendioxidemissionen extrem steigern würde. Nordhaus zog schon früh die Probleme des Klimawandels in die Wirtschaftswissenschaften mit ein. Und wie es für einen Ökonomen typisch ist, sprach er sich für die Einführung einer CO2-Emissionssteuer aus und versuchte, ein Modell für das Bestimmen der optimalen Emissionsreduktionsrate zu konstruieren.
Doch genau diese optimale Rate ist das Problem. Für die Bekämpfung des Klimawandels braucht es weniger Treibhaus
gasemissionen. Setzt man das Reduktionsziel zu hoch an, hemmt es das Wirtschaftswachstum; man müsse auf die »Ausgewogenheit« achten, so Nordhaus. [3] Seine »Ausgewogenheit« ist jedoch eine, mit der er viel zu sehr Partei für das Wirtschaftswachstum ergreift. Nordhaus behauptet nämlich, dass wir uns wegen des Klimawandels nicht den Kopf zerbrechen und mit dem bisherigen Modell des Wirtschaftswachstums weitermachen sollten. Es sichere den Wohlstand, der wiederum neue Technologien hervorbringe. So könnten zukünftige Generationen diese fortgeschrittenen technologischen Errungenschaften dazu nutzen, dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen. Denn mit einer starken Wirtschaft und den neuen Technologien bestehe keine Notwendigkeit, die natürliche Umwelt für nachfolgende Generationen im gleichen Zustand zu belassen wie heute.

Doch auch mit der von Nordhaus vorgeschlagenen CO2Emissionsreduktionsrate würde die Durchschnittstemperatur auf der Erde bis zum Jahr 2100 um satte 3,5 °C ansteigen. Die beste Lösung besteht für die Wirtschaftswissenschaften also darin, praktisch nichts gegen den Klimawandel zu unternehmen.

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das 2016 in Kraft getretene Pariser Übereinkommen darauf abzielt, die Klimaerwärmung bis 2100 auf unter 2 °C (vorzugsweise unter 1,5 °C) gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Viele Wissenschaftler schlagen nun jedoch Alarm, dass selbst das 2 °C-Ziel extreme Gefahren mit sich bringe, man die 1,5 °C anpeilen müsse. Nordhaus’ Modell ist also mehr als unzureichend, ein Anstieg von 3,5 °C würde vor allem in den Entwicklungsländern Afrikas und Asiens katastrophale Schäden verursachen. Doch der Beitrag dieser Länder zum weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist gering. Natürlich wäre die Landwirtschaft ebenfalls schwer betroffen, doch auch ihr Beitrag zum weltweiten BIP beträgt »bloß« 4 Prozent, das klingt doch nicht so schlimm, die paar in Mitleidenschaft gezogenen Menschen in Afrika und Asien muss man eben in Kauf nehmen. Das, meine Damen und Herren, ist die Denkweise eines Nobelpreisträgers.

Aus dieser Position heraus ist Nordhaus’ Einfluss auf die Mainstream-Umweltökonomik natürlich sehr groß, weshalb sie die Grenzen der Natur und die Ressourcenknappheit betont. Unter diesen beiden Bedingungen die optimale Verteilung der Ressourcen zu ermitteln ist die Stärke der Wirtschaftswissenschaften. Das dadurch errechnete Optimum wäre dann sowohl für die Natur als auch für die Gesellschaft eine Win-win-Lösungsstrategie, die deshalb allgemein auch viel Anklang findet. Hierbei handelt es sich zweifellos um eine effektive Strategie für Wirtschaftswissenschaftler, bei internationalen Organisationen Präsenz zu zeigen. Im Gegenzug rechtfertigt so eine Vorgangsweise eine langsame und schleppende Reaktion auf den Klimawandel, die wenig oder gar nichts bewirkt.

Natürlich beeinflusst Nordhaus’ Ideologie auch das Pariser Übereinkommen, das den Temperaturanstieg wie gesagt auf unter 2 °C begrenzen will. Doch das ist nur ein leeres Versprechen. Wissenschaftler weisen darauf hin, dass es auch dann zu einem Temperaturanstieg um 3,3°C kommen würde, wenn sich alle Staaten an die Beschlüsse des Übereinkommens hielten.4 Ein Wert also, der ziemlich nah an Nordhaus’ Berechnungen liegt. Denn wie erwartet hat für die Eliten eines jeden Landes das Wirtschaftswachstum oberste Priorität, die eigentlichen Probleme aber werden nach hinten verschoben.

Deshalb ist es auch gar nicht verwunderlich, dass die Kehrseite von Losungen wie SDGs oder ESG (Environmental, Social and Governance), über die in den Medien so breit berichtet wird, ein jährlicher Anstieg der CO2-Emissionen ist. Unsere Welt ist aber bereits mit einem Temperaturanstieg von über 1,1 °C konfrontiert, wir können es uns nicht mehr leisten, weiter Zeit zu vergeuden. Und dennoch wird der Kern des Problems verschleiert, und die Klimakrise im Anthropozän verschlimmert sich zusehends.

14.08.2023, 19:52

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