Huldigung der freien Meinungsäußerung

Zum Film Als X. vor seinem Auftritt ein Formular unterzeichnen soll, mit dem er bestätigt, über bestimmte Themen nicht zu sprechen, verweigert er seine Unterschrift und beginnt stattdessen einen leidenschaftlichen Kampf für die Meinungsfreiheit in seinem Land
Filmstill aus „Aheds Knie“ von Nadav Lapid.
Filmstill aus „Aheds Knie“ von Nadav Lapid.

Foto: Grandfilm

Aheds Knie wurde aus dem Gefühl der Dringlichkeit heraus geschrieben – ein Gefühl, das mich dazu drängte, zu schreiben, alles aufzuschreiben, schnell zu schreiben, bis zum Ende. Es war ein Gefühl, das mehr Kontrolle über mich hatte als ich über es.

Der Film basiert auf einer Begebenheit im Juni 2018. Ich bekam einen Anruf von einer Frau, die sich als stellvertretende Direktorin der israelischen Bibliotheken im Kulturministerium vorstellte – sie lud mich ein, meinen Film The Kindergarten Teacher in der Bibliothek von Sapir vorzustellen, einem winzigen, abgelegenen Dorf in der Region Arava, am anderen Ende Israels. Dort gibt es eine weite Wüste und viel Sand, Menschen allerdings nur wenige – es ist ein Ort, an dem ich noch nie zuvor gewesen war.

Am Telefon wirkte sie unerwartet jung für ihre Position und sehr freundlich. Während sie versuchte, meine Fragen zu beantworten, erzählte sie mir, wie ihre Leidenschaft für die Literatur – eine Leidenschaft, die sie als junges Mädchen entwickelte, ohne jedes Zutun ihrer Verwandten, die nicht gerne lasen – dazu führte, dass sie die örtliche Bibliothek am Ende der Straße leitete und später eine Stelle im Kulturministerium erhielt. Sie sagte, dass die Bibliotheken in den letzten zwei Jahren zu wichtigen kulturellen Zentren in Dörfern geworden seien, in denen es keine Kinos oder Theater gab. Die gesamte kulturelle und künstlerische Tätigkeit wurde also von den für die Bibliotheken zuständigen Mitarbeiter*innen des Kulturministeriums, in diesem Fall also von ihr selbst, durchgeführt.

Kurz bevor wir auflegten, erwähnte sie noch ein Formular, das ich auszufüllen und zu unterschreiben hätte, damit meine Filmvorführung genehmigt werden konnte. Zusätzlich zu einigen technischen Informationen, die ich in das Formular eintragen sollte, wurde von mir erwartet, aus einer Liste von Themen das Thema meiner Präsentation auszuwählen. Gleichzeitig sollte ich versprechen, dieses Thema mit dem Publikum zu diskutieren, nur dieses und kein anderes.

Das kam mir verdächtig vor. Vor allem, da die freie Meinungsäußerung in Israel heutzutage zusehendes einer düsteren Wintersonne gleicht, die immer dunkler wird und stirbt. Es gibt geradezu eine Kampagne gegen die Meinungsfreiheit – und an der Spitze dieser Kampagne steht zufällig die Kulturministerin selbst.

Ich sagte zur stellvertretenden Direktorin der Bibliothek: „Ich gehe davon aus, dass die Liste der Themen mit den von der Regierung erlaubten Themen übereinstimmt und dass diese Leute Probleme damit haben, die Meinung anderer zu akzeptieren. Und dass sie jeden zum Schweigen bringen, der nicht ihrer Meinung ist“.

Nach kurzem Schweigen sagte sie zu meiner Überraschung: „Ich bin nicht stolz darauf, was ich in diesem Job mache. In den letzten zwei Jahren haben sie versucht, alles zu kontrollieren. Sie können es nicht ertragen, wenn jemand nicht ihrer Meinung ist“. Sie flehte mich sofort an, das Formular trotzdem zu unterschreiben und trotzdem in die Wüste zu kommen, um den Menschen in diesem abgelegenen Dorf meinen Film zu zeigen.

Nachdem wir aufgelegt hatten, rief ich eine Freundin von mir an, die als Reporterin bei der einzigen anspruchsvollen, unabhängigen Zeitung arbeitet, die es in Israel noch gibt. Sie war ebenfalls überrascht über ein so offenes Geständnis einer wichtigen Beamtin und fragte mich, ob ich sie ohne ihr Wissen aufnehmen könne. Ich hielt das für ethisch nicht vertretbar. Ich stellte mir vor, wie verheerend es für die junge Frau, mit der ich gesprochen hatte, sein würde, wenn die Aufnahme an die Öffentlichkeit käme. Noch im besten Fall würde sie aus dem Kulturministerium entlassen und nie mehr als Beamtin arbeiten können.

Ich fuhr also in den Süden nach Arava. Die Wüste um mich herum schien mir grenzenlos und leer. Die wenigen Menschen, denen ich begegnete, waren Israelis, wie ich sie nicht kannte. Ich unterschrieb das fragliche Formular. Als ich nach der Filmvorführung mit dem Publikum zusammentraf, sprach ich mehr oder weniger so wie immer. Vielleicht war ich unbewusst aber auch vorsichtiger geworden.

Einige Monate später stellte der Kulturminister das Gesetz über die Treue zur Kultur vor, welches die Finanzierung von Kunstwerken verbot, die als untreu gegenüber der Regierung angesehen wurden. Dieses Gesetz konnte jederzeit verabschiedet werden. Die relativ demokratischen Verhältnisse, in denen wir leben, scheinen unsicher. Wir erleben das Ende einer bestimmten israelischen Mentalität, in der ich aufgewachsen bin. Es ist das Ende Israels, wie ich es kannte. Vielleicht ist dies das unvermeidliche Schicksal eines Landes im permanenten Kriegszustand, das Schicksal eines Landes, in dem jeder, auch ich, Krieg erlebt, an ihm teilgenommen und Gewalt ausgeübt hat. Ich weiß es nicht. Weder bin ich Historiker noch Soziologe, doch seltsamerweise scheint die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks zum Schlüsselsymbol für diesen Zusammenbruch geworden zu sein.

In meinem Drehbuch geht der Filmregisseur einen Weg, den ich unmöglich hätte gehen können. Er ist bereit, die stellvertretende Direktorin der Bibliotheken zu opfern, um einen sich schnell vorwärts bewegenden faschistischen Panzer zu bremsen. Macht ihn das zum Helden? Oder ist er ein Schurke? Stürzt er eine junge Frau ins Verderben, die doch nur gute Absichten hat und womöglich viel ehrlicher und mutiger ist als er selbst? Oder hat er es mit einer feigen Frau zu tun, die die Drecksarbeit eines Schurkenstaates erledigt? Verwischt in diesen dunklen Tagen nicht die Grenze zwischen Opfern und Tätern, zwischen Starken und Schwachen, zwischen oben und unten? Ja, die Grenzen verschwimmen, wir befinden uns alle auf demselben sinkenden Schiff. X., der Regisseur, ist hart, rücksichtslos, arrogant, feindselig, wütend. Hat seine Wut einen politischen Sinn oder geht es ihm nur um Grausamkeit? Ist er vielleicht einfach nur furchtbar traurig angesichts des Todes seiner Mutter, den er nicht verhindern kann, und des drohenden Todes seines Landes, das er womöglich doch noch vor dem Untergang bewahrt? Tief in seinem Inneren weiß er, dass er nicht verrückt und edel genug ist, es durchzuziehen.

Die Worte in diesem Film sind eine Textur, eine Melodie. Sie bilden einen Teil dieser Welt, genau wie die Wüste, die Sonne, die Einsamkeit oder das Gefühl der Leere. Sie sind wichtig, nicht nur wegen ihrer Bedeutung, sondern auch, weil sie gesprochen werden. Worte werden dadurch zu einer Musik, die immer lauter und schneller wird, getrieben von X.s Verzweiflung, seiner Hilfslosigkeit und seiner Traurigkeit. Gleichwohl, am Ende dieses Crescendos steht nicht die Erlösung. X.s wutentbrannte Manifeste und Reden machen trotzdem Sinn und helfen ihm, nicht zusammenzubrechen.

– Nadav Lapid, Regiesseur von Aheds Knie

13.03.2022, 17:25

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