Drehbuchautor Simeon Ventsislavov und ich haben lange nach den Figuren für den letzten Film der Trilogie gesucht. In Directions waren die Figuren Taxifahrer*innen und ihre Kund*innen, in Rounds waren sie Streifenpolizist*innen, in Blaga’s Lessons sind es Rentner*innen. Dennoch handelt es sich nicht um eine spezifisch bulgarische Geschichte, denn das Schicksal dieser Menschen ist ein globales, insbesondere in den westlichen Gesellschaften.
Die Geschichte unserer Hauptfigur Blaga hält einer Reihe von schmerzhaften Aspekten der bulgarischen Gesellschaft den Spiegel vor. Zum Beispiel:
Die Rentner*innen, die einem erniedrigenden Dasein überlassen werden unsere Mütter und Väter. Nachdem sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, ist ihr Leben heute Völkermord, Agonie und Elend. Magere Renten, kein Zugang zu den grundlegenden „Privilegien“ des 21. Jahrhunderts wie normale Lebensmittel, angemessene Medikamente und medizinische Versorgung, Heizung zu Hause. Die Rentner*innen sind auch das Hauptziel und die üblichen Opfer des obszönen Phänomens, das als „Telefonbetrug“ bekannt ist. Die Träume von einem menschenwürdigen Leben sind längst durch einen Kampf um das primitive tägliche Überleben ersetzt worden.
Die Einsamkeit der Rentner*innen die meisten von ihnen sind von ihren Kindern und Enkelkindern getrennt. Ihre Nachkommen sind weit weg und suchen ihren Lebensunterhalt in der Hauptstadt oder in fernen Ländern.
Die vollständige moralische Krise, in der sich unsere Gesellschaft befindet. Die Obszönität des Diebstahls der Ersparnisse einer älteren Person, die kaum über die Runden kommt. „Leicht verdientes Geld“ unter völliger Missachtung jeglicher Gesetze, Wertesysteme oder Moral. Die Seelenlosigkeit, die Korruption und das Konsumverhalten als einziger „Wert“.
Ich lebe mit meinen beiden Kindern in Bulgarien. Die wichtigsten Fragen, die mich seit Jahren beschäftigen, sind diese: Was geschieht in Bulgarien? Wohin bewegen wir uns? Warum versinken wir immer tiefer in einer Krise nicht nur in einer wirtschaftlichen, sondern auch in einer geistigen, einer Wertekrise? Wo können wir nach Hoffnung suchen? Wie und wo werden unsere Kinder leben? Diese Fragen standen im Mittelpunkt von Directions und Rounds, und sie stehen auch im Mittelpunkt von Eine Frage der Würde (engl.: Blaga’s Lessons). Die getreue Darstellung und das Verständnis der Wirklichkeit ist die erste Voraussetzung für ihre Veränderung, die einzige Bedingung für fruchtbares Handeln.
Auch wenn Eine Frage der Würde (engl.: Blaga’s Lessons) der letzte Teil der Trilogie ist, so ist er doch ganz anders als die ersten beiden Filme. Das Drehbuch konzentriert sich völlig auf eine Hauptfigur, die Rentnerin Blaga. Es gibt keine Eile, die Kamera ist langsam und beobachtend und nimmt Blaga unter die Lupe, ihr Leben und die Ziele, die ihre Träume ersetzt haben, ihre Einsamkeit, ihren zum Scheitern verurteilten Kampf und die Stadien ihres moralischen Verfalls.
Zum Schluss möchte ich noch eine Sache erzählen, die mich während der Recherchen zum Drehbuch, schockiert hat. Es gelang uns, einen echten Telefonbetrüger zu treffen. Während unseres geheimen Gesprächs „prahlte“ er mit der „Beute“, auf die er und seine „Kollegen“ es hauptsächlich abgesehen haben. Es handelt sich um das Geld (in der Regel etwa 1000 Lew, ca. 500 EUR), das fast alle bulgarischen Rentner*innen in einem Buch in ihrem Bücherregal verstecken. Geld, das sie für ihre Beerdigung zurückgelegt haben.
– Stephan Komandarev