„Ein Balanceakt, eine Gratwanderung“

Interview Claire Denis spricht im Interview über ihren Film „Mit Liebe und Entschlossenheit“. Ein Film, der nicht nur einfach die Geschichte einer Ménage à trois erzählt, sondern viel mehr das komplexe Innenleben aller involvierten Personen nachzeichnet
Vincent Lindon als Jean in „Mit Liebe und Entschlossenheit“
Vincent Lindon als Jean in „Mit Liebe und Entschlossenheit“

Foto: Arsenal Filmverleih

Ist dies nach Eine schöne innere Sonne aus dem Jahr 2017 ihre zweite Drehbuch-Zusammenarbeit mit Christine Angot?

Ja, aber die Arbeit mit Christine war dieses Mal etwas anders. Es ging nicht darum, ex nihilo zu schreiben, sondern um die Adaption einer ihrer Romane, Un tournant de la vie. Außerdem, und das ist nicht unwichtig, nahm dieses Projekt zu Beginn der Pandemie Gestalt an. Wie so viele andere befanden wir uns in einem Stillstand, wie unter Hausarrest. Also haben Christine und ich gearbeitet. Es ist ein bisschen seltsam, das zu sagen, aber es ist die Wahrheit: Dieser Film existiert dank des Lockdowns.

Wie arbeiten Sie beide?

Christine ist ziemlich melancholisch, ich selbst bin eher eine ängstliche Person. Der Zusammenprall unserer Temperamente war manchmal ziemlich explosiv. Pluspol, Minuspol, wie bei einer elektrischen Batterie sprühten Funken. Unsere Zusammenarbeit war sehr lebendig und vor allem sehr fröhlich, alles bewegte sich und ging sehr schnell. Bei Christine braucht es nicht viel und ich muss lachen. Christine hat eine permanenten Offenheit für Humor.

Könnten Sie Mit Liebe und Entschlossenheit zusammenfassen?

Es ist eine einfache Geschichte: Sara ist eine Frau, die in einer Beziehung mit Jean lebt. Durch Zufall trifft sie François, einen ehemaligen Liebhaber, wieder. Aber sowohl in Christines Roman als auch im Film ist diese Einfachheit trügerisch und vereitelt viele Klischees.

Welche Klischees sind das?

Klischees von Verhaltensmustern kennen wir alle: die Ménage à trois, die Frau, die zwischen zwei Männern hin- und hergerissen ist und darunter leidet, usw. Bei Christine bestand keine Gefahr, dass wir in diese Konventionen verfallen. Es ist ein schmaler Grat und der Film ist dieser Grat, ein Balanceakt, eine Gratwanderung. Für mich ist ein Drehbuch wie weicher Lehm, der sich allmählich formt. Silhouetten tauchen aus dem Nebel auf, beginnen sich zu bewegen, zu sprechen, Gestalt anzunehmen... Diese drei Personen leben in der Gegenwart und wir erfahren nicht viel über ihre Vergangenheit. Das ist natürlich mit Absicht so. Sara arbeitet bei Radio France Internationale, RFI, einem öffentlich-rechtlichen Sender in Frankreich, der Nachrichten aus der ganzen Welt sendet. Es ist für mich und die Figur wichtig, dass Sara viele Stimmen hört, die sagen, dass es überall nicht so gut läuft. Sie sagt auch beiläufig, dass sie den Vater ihrer Tochter sehr geliebt hat und immer lieben wird. Irgendwo ist sie also auch eine Mutter. Wir verstehen, dass Jean arbeitslos ist, dass er im Gefängnis war, dass er ein ehemaliger Rugbyspieler ist und dass er um jeden Preis versucht, wieder arbeiten zu können. Er versucht auch, wieder Kontakt zu seinem Sohn Marcus aufzunehmen, der bei Jeans Mutter lebt. François ist vielleicht ein Verbrecher oder er ist auf Rache aus. Diese Details sind minimal gehalten, aber ich denke, sie sind ausreichend. Schon allein deshalb, weil sie dem Zuschauer die Freiheit lassen, die eigene Fantasie zu benutzen. Ein Film ist wie ein Haus. So wie ich dieses gebaut habe, musste ich keine weiteren Räume hinzufügen, um es bewohnbar zu machen. Die Beschaffenheit der Figuren liegt nicht in ihren Biografien. Sie liegt im Moment. Ihre flüchtige Gegenwart - ein paar Tage in Paris im Winter - reicht aus, um einen Sturm der Gefühle zu entfachen, der sie zerstört zurücklassen wird. Das ist auch der Grund, warum es nur wenige Außenszenen gibt. Ihr eigenes Innerstes dient als leicht mysteriöse Äußerlichkeit. Sie sind wie Außerirdische, die aus ihren Gewohnheiten heraus teleportiert wurden.

Mit Liebe und Entschlossenheit ist auch ein Wiedersehen mit Schauspielern, mit denen Sie bereits gedreht haben, mit einigen von ihnen sogar mehrmals: Juliette Binoche, die Sara spielt, Vincent Lindon, der Jean spielt, und Grégoire Colin, der François darstellt.

Es war ein Wiedersehen wie kein anderes. Juliette Binoche beispielsweise kann alles! Komödie, wie in Eine schöne innere Sonne, und hier eine Art tragische Ernsthaftigkeit. Sie ist mutig. Sie begegnet allem frontal, stellt sich jeder Herausforderung. Das ist nicht nur Show. Es ist organisch. Juliette ist ganz und gar Sara: schön, rebellisch, voller Liebe und Entschlossenheit. Vincent Lindon bot mir seine männliche Kraft, die auch sanft und beruhigend ist. Sobald er seiner Rolle vertraut, gibt er alles. Sein Jean ist verzweifelt, aber nicht lächerlich, wenn er zum Beispiel darüber spricht, warum er den Supermarkt liebt. Er hat etwas zartes und zerbrechliches an sich. Ich mag eine seiner Szenen sehr, als er auf den Balkon geht, um eine Zigarette zu rauchen. Alles wird im Stillen gesagt: Sein Verlangen nach einer Zigarette darf das Leben der anderen nicht beeinträchtigen. Grégoire Colin bietet eine andere Art von Männlichkeit. Ich habe mich darauf gefreut, ihn wieder mit seinem wolfsähnlichen Gesicht zu filmen. François, seine Figur, ist intuitiv, ein Schelm, der sein Leben wie in einem Kasino aufs Spiel setzt: alle Jetons auf Schwarz, auf Rot, noch einmal, ein letztes Mal und wir werden sehen. Für ihn zählt der Nervenkitzel des Spiels mehr als der Gewinn.

Was haben diese drei Akteure gemeinsam?

Was mich über die Fiktion des Films hinaus mit ihnen verbindet, ist, dass wir uns weiterhin lieben und uns nie verlassen haben. Jeder Schauspieler flüsterte mir zu: „Das ist meine Figur, ich liebe sie und ich möchte, dass du sie auch liebst". Natürlich können wir über die Kostüme, die Frisuren oder die Kulissen, in denen sie sich bewegen werden, diskutieren. Aber das Einzige, worüber ich nicht mit ihnen verhandeln kann, ist ihr Engagement. Sobald sie da sind, wirklich da sind, dringen sie in alles ein. Und was für eine sanfte Invasion! Es gibt keinen Platz mehr, um sie nicht zu mögen. Das gilt auch für die anderen Schauspieler: Mati Diop, Bulle Ogier. Ich habe darauf bestanden, dass sie bei dem Projekt mitmachen. Ich brauchte sie. Sie haben mir ihr Vertrauen geschenkt, sie haben mir andere Türen - freiere, persönlichere - geöffnet, durch die ich in den Film eintreten konnte.

Es war das erste Mal, dass Sie mit Eric Gautier zusammengearbeitet haben. Wie haben Sie beide auf einen Bildausschnitt geeinigt?

Ich kenne Eric Gautier schon seit Jahren, aber wir hatten nie die Gelegenheit, zusammen zu arbeiten. Der Pakt, den wir geschlossen haben, war, dass wir uns beide so nah wie möglich an die Intimität dieses Trios heranwagen würden. Es kann große Hemmungen geben, sich einer solchen Intimität anzunähern. Aber in der Wohnung, in der wir drehten, war der Platz relativ eng. Dadurch kamen Eric und ich noch näher an sie heran. Und bei den nächtlichen Dreharbeiten, als Sara und Jean ihren großen Streit hatten, stürzten wir uns so sehr in diesen Streit, dass wir alle ganz leichenblass nach Hause gingen.

Verkörpert die Figur der Sara verkörpert eine Art Freiheit?

Das männliche Begehren ist nicht schlecht., aber vielleicht ist das weibliche Begehren besser. Sie haben das Recht auf die gleichen Verfehlungen wie die Männer. Ehebruch? Verrat? All dieses konventionelle Vokabular der bürgerlichen Ehe ist mir völlig fremd. Sara ist weder unterwürfig noch ein Opfer. Sie gibt sich ihrem Verlangen hin, aber keiner bestimmten Person, weder ihrem regelmäßigen Partner noch ihrem vorübergehenden Liebhaber. Es erfordert unglaubliches Glück, und passiert nicht oft, einen ehemaligen Geliebten wiederzufinden. Sara probiert es aus, sie wirft eine Münze in die Luft, sie spielt dieses gefährliche Spiel Kopf oder Zahl, und im Grunde ist es ihr egal, wo und wie die Münze fällt, auf welcher Seite sie landet. Für sie ist das Leben ein Abenteuer, ein zweischneidiges Schwert, wie im Titel der von Stuart Staples komponierten Originalmusik: Both sides of the blade.

14.07.2023, 17:07

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