Millimeterweise nähert sich Afghanistans Unabhängige Wahlkommission (IEC) der Verkündung des vorläufigen Endergebnisses der Präsidentenwahl vom 20. August. Genauso langsam, aber deutlich erkennbar bewegt sich Amtsinhaber Hamid Karsai von Zwischenergebnis zu Zwischenergebnis über die 50-Prozent-Marke hinweg, die ihm eine Stichwahl erspart. Nach letzten Teilresultaten vom 8. September liegt er mit 54 Prozent deutlich darüber. Sein schärfster Rivale, der frühere Mudschahedinführer Abdullah Abdullah, kommt auf 28,1 Punkte. Da inzwischen etwa neun Zehntel aller Stimmen ausgezählt sind, trennen ihn von Karsai beachtliche 26 Prozent. Schafft der die absolute Mehrheit klar im ersten Wahlgang? – könnte man fragen, würde es sich
ch um eine normale Wahl handeln. Doch ein solches Prädikat verdient dieses Votum nicht im Geringsten.Fantastische 17 MillionenDa gab es am 20. August zunächst einmal die bekanntlich prekäre Sicherheitslage. Zwei Drittel der Distrikte Afghanistans waren für Regierungsvertreter – dazu gehören die Mitglieder der Wahlkommission – und Ausländer nur unter erheblichem Risiko zugänglich. Lediglich in drei der 34 Provinzen wurde zu diesem Zeitpunkt die Präsenz des bewaffneten Widerstandes als „niedrig“ eingestuft. In manchen Gegenden mussten die Wahlurnen von Militärkonvois eskortiert oder per Hubschrauber ausgeflogen werden. Mit über 300 „sicherheitsrelevanten Zwischenfällen“, wie es bei der ISAF heißt, bescherte der Wahltag die turbulentesten 24 Stunden, seit der erste Soldat der US-geführten Koalition im Oktober 2001 seinen Fuß auf afghanischen Boden setzte.Schon am frühen Morgen des 20. August lieferten sich Taliban schwere Gefechte mit Regierungstruppen in den Provinzen Baghlan und Kundus, dem Stationierungsgebiet der Bundeswehr. Das Zentrum von Lajja Mangal – einem Distrikt im Südosten – wurde von drei Seiten aus angegriffen. Am Rande der Provinzhauptstadt Gardez reichten ein paar Raketen und das Geräusch feuernder Kalaschnikows, um die Menschen in ihren Häusern zu halten. Trotzdem wurde gerade aus den umkämpften Regionen eine angeblich hohe Wahlbeteiligung gemeldet.Ein recht grobschlächtiger Wahlbetrug begann bereits mit der 90 Millionen Dollar teuren Wählerregistratur zum Jahreswechsel 2008/09, die zur völligen Farce verkam. Dabei sollten eigentlich nur Neuwähler, zurückgekehrte Flüchtlinge und vor den Wahlen 2004/05 durchs Netz gerutschte Wahlberechtigte erfasst werden. Tatsächlich bekam jeder Afghane, der sich meldete, einen Wählerausweis, wurden in den paschtunischen Aufstandsgebieten unglaublich viele Frauen erfasst, stieg die Zahl der Wähler auf fantastische 17 Millionen. Was Martine van Bijlert, den Sprecher des unabhängigen Afghanistan Analysts Network, von einer „höchst organisierten Manipulation durch Regierungsoffizielle und Netzwerke der Sicherheitskräfte“ sprechen ließ.Um so mehr lief Karsais Wahlmaschine unter diesen Umständen auf Hochtouren. Da die Regierung noch – bis auf 14 – alle Distrikt-Zentren hält, konnten ihre Anhänger dort die aus Sicherheitsgründen erzwungene Absenz internationaler Wahlbeobachter zum Stopfen von Wahlurnen mit selbst fabrizierten Stimmzetteln nutzen. Auf sich gestellt waren afghanische Kontrolleure kaum in der Lage, dem Druck lokaler Autoritäten zu widerstehen. Nur einige typische Episoden: Ein Wahllokal in Ziruk (Provinz Paktika) meldete 2.200 Stimmen glatt für Karsai bei nur sechs Gegenstimmen. In der Ghaziabad-Moschee im Aufstandsdistrikt Bakwa nahe der iranischen Grenze ein ähnliches Bild: 750 Stimmen im Block für Karsai bei drei Abweichlern – Wahlbeteiligung 100 Prozent. Solche Beispiele finden sich überall.Währenddessen ringen in Kabul hinter den Kulissen IEC und Vereinte Nationen heftig miteinander, ob – wie von IEC-Chef Azizullah Ludin beabsichtigt – auch jene Urnen freigeben werden, die wegen zu offensichtlicher Fälschungen bislang unter Quarantäne stehen.Vorerst setzte sich die UNO durch. Am 6. September kassierte die IEC kurzerhand 447 Wahlurnen mit etwa 200.000 Stimmen. Ergebnisse wie aus dem Ort Seyyed Bosa (Provinz Kandahar), wo Karsai in allen fünf Wahlkreisen mit verdächtig runden Zahlen gewonnen haben soll (Gegenstimmen: keine) verschwanden von der IEC-Website. Clan-Führer aus der Gegend hatten in der New York Times berichtet, dass Schläger des Präsidentenbruders Ahmad Wali Karsai alle gelieferten Wahlurnen eigenhändig gefüllt hätten, ohne dass ein einziger Wähler in deren Nähe gelassen wurde.Worum es gehtTrotz alledem verzichten große internationale Organisationen bisher darauf, den Wahlbetrug mit klaren Worte zu geißeln. Beobachter aus der EU und den USA hatten zunächst sogar überaus positiv Stellung bezogen und von einem „Sieg der afghanischen Demokratie“ gesprochen. Noch vor einer Woche meinte Obamas Afghanistan-Emissär Richard Holbrooke, Unregelmäßigkeiten kämen „in jeder Demokratie“ vor; man möge an das siebenmonatige Nach-Wahl-Patt im US-Staat Minnesota denken. Immerhin verlangten die EU-Außenminister, allen Betrugsvorwürfen auf den Grund zu gehen. Verständlich, denn die Furcht ist groß, der mühsam und mit hohen Kosten aufrecht erhaltene politische Prozess könnte zum Stehen kommen.Die regierungskritische Kabuler Zeitung Acht Uhr morgens bringt auf den Punkt, worum es geht: „Wichtig ist nicht, wer gewinnt oder verliert, sondern dank welcher Herangehensweise der Sieg eines der Kandidaten bestimmt wird. Die Wahl muss den Glauben der Menschen stärken, dass der Sieg auf demokratischem Wege errungen werden kann, andernfalls wird sich nichts ändern.“ – Genau das verstehen die Regierungen der westlichen Geberländer offenbar nicht: Sie stellen Karsai, Abdullah, den mit beiden liierten Warlords und der parteiübergreifenden Drogenmafia einen Freibrief aus, die Afghanen weiter auszuplündern, wenn ein manipulierter Wahlsieg als regulärer Triumph verkündet wird.