Die Lösung der meisten Gesellschaftsprobleme ist einfach: Mehr Gleichheit. Zwei Wissenschaftler zeigen, dass Ungleichheit nicht nur den Armen schadet, sondern uns allen
Ein neuer Tag, eine neue Überschrift: Heute Übergewicht, morgen Teenagerschwangerschaften, übermorgen die Kriminalitätsrate - kaum ist ein soziales Problem verschwunden, taucht schon das nächste auf. Zumeist wird davon ausgegangen, sie stünden in keinerlei Zusammenhang miteinander. Übergewicht ist ein Gesundheitsproblem, Kriminalität ein politisches und so weiter. Also treten die Regierungen mal hier, mal da neue Initiativen los, bauen neue Krankenhäuser oder stellen mehr Geld für Polizei oder Gefängnisse zur Verfügung. Hoffnung, dass sich wirklich etwas verbessern wird, hat dabei kaum jemand.
Das könnte sich jetzt ändern. Vielleicht. Richard Wilkinson – leise Stimme, mittelalt, irgendwie durch und durch englisch
nglisch – ist kaum der Typ, von dem man eine umfassende "Theorie von Allem" erwarten würde. Doch genau die hat der pensionierte Professor der "Nottingham Medical School" nun gemeinsam mit seiner Partnerin Kate Pickett, die Epidemologie an der Universität von York lehrt, vorgelegt.Der erste Satz ihres neuen Buches The Spirit Level bemüht sich zunächst um Bescheidenheit: ”Menschen neigen dazu, die Bedeutung der eigenen Arbeit überzubewerten. Wir möchten uns davor hüten, zu viel zu behaupten.“ Bei den letzten Sätzen des Buches angekommen, fragt man sich allerdings, wie sie noch mehr hätten in Anspruch nehmen können. Immerhin legen sie die These dar, dass fast allen sozialen Problemen, die entwickelte Gesellschaften kennen – von verringerter Lebenserwartung über Kindersterblichkeit, Drogen, Kriminalität, Selbstmordraten, Geisteserkrankungen und Übergewicht –, eine gemeinsamen Ursache zugrunde liegt: Ungleichheit.Soziale Ungleichheit ist für alle schlecht...Dabei, so die beiden Wissenschaftler, stünden nicht nur die unterprivilegierten Mitglieder von Gesellschaften mit größerer sozialer Ungleichheit schlecht da, sondern auch die Wohlhabenderen, denn es sei nicht das absolute Ausmaß der Armut, welches soziale Probleme erzeuge, sondern der Einkommensunterschied zwischen Arm und Reich. So habe ein Mensch, der zu den zwanzig Prozent mit dem niedrigsten Einkommen einer Gesellschaft gehört, eine längere Lebenserwartung als sein entsprechendes Gegenüber in einer Gesellschaft mit weniger Gleichheit. Ebenso habe jemand, der zu den zwanzig Prozent mit dem höchsten Einkommen einer bestimmten Gesellschaft zählt, eine höhere Lebenserwartung als sein Alter Ego in einer Gesellschaft, in der weniger soziale Gleichheit herrscht.Man braucht nur einmal die Statistiken anschauen, die immer wieder Schlagzeilen machen: Die USA sind wohlhabender und geben mehr für ihr Gesundheitswesen aus, als jedes andere Land. Trotzdem hat ein Baby, das in Griechenland geboren wurde, wo das Durchschnittseinkommen nur halb so hoch ist wie in den USA, ein geringeres Risiko, als Säugling zu sterben, und eine höhere Lebenserwartung als ein amerikanisches Baby. Übergewichtigkeit kommt in Großbritannien doppelt so häufig vor wie in Schweden oder Norwegen, wo mehr soziale Gleichheit herrscht und sechsmal häufiger in den USA als in Japan. Teenagerschwangerschaften kommen im Vereinigten Königreich sechsmal häufiger vor als in Gesellschaften, in denen vergleichsweise mehr Gleichheit herrscht, Geisteskrankheiten sind in den USA dreimal häufiger als in Japan, die Mordrate in Gesellschaften mit relativer Ungleichheit ist dreimal höher. Die Liste der Beispiele ließe sich beinah endlos fortführen.Es scheint, als handele es sich bei der Ungleichheit um ein gleichmacherisches Leiden, das jeden unmittelbar betrifft. Bedeutet das, dass Gleichheit nicht länger als eine Sache von Moral und Altruismus, sondern als eine des blanken Eigeninteresses betrachtet werden muss? Nach einer kurzen Pause sagt Pickett: ”Ich bin mir nicht sicher, ob dies genau die Botschaft ist, die wir übermitteln möchten.“ Es folgt eine weitere Pause, bevor Wilkinson hinzufügt: ”Trotzdem stimmt es.“...daher ist Gleichheit im Eigeninteresse eines jedenPickett ist sich der politischen Implikationen ihrer Ergebnisse sehr gewahr, wohingegen Wilkinson eher Freude daran hat, eine These bis zur letzten Konsequenz zu durchdenken. Wenn Eigeninteresse und Gier Ungleichheit erzeugen, möchte man nicht unbedingt den Eindruck vermitteln, dass dieselben Dinge zur Lösung führen könnten. Andererseits entbehrt der Gedanke, dass die Bessergestellten lange Zeit einem Missverständnis darüber aufgesessen sein sollen, worin ihre eigenen Interessen bestehen, nicht einer gewissen Ironie. Und außerdem erhalten Gutmenschen nicht oft die Gelegenheit, ihre Moralität mit ihrem Eigeninteresse zu verbinden. Also, findet Wilkinson, sollten wir einfach das Beste draus machen.Immer wieder betonen beide, The Spirit Level sei eine Gemeinschaftsleistung. Aber auch manche Gemeinschaftsleistungen sind gleicher als andere. Während Pickett, die 1999 promovierte, ein relativer Neuling auf dem Gebiet ist, arbeitet Wilkinson seit Jahren mit mal mehr, mal weniger Erfolg und Glück über die sozialen Determinanten der Volksgesundheit. Die zündende Idee zu The Spirit Level kam vor fünf Jahren, als die Weltbank erstmals umfassende Daten zugänglich machte. Damals bemerkte Wilkinson, dass ein Phänomen, das er auf seinem Feld beobachtet hatte, nämlich, dass Gesundheit eher von relativen gesellschaftlichen Unterschieden als vom absoluten materiellen Stand des Einzelnen abhängt, auch in anderen Bereichen der Sozialpolitik zu wirken scheint.„Es wurde deutlich, dass in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Portugal, wo die oberen zwanzig Prozent sieben, acht oder neunmal mehr verdienen als die unteren zwanzig Prozent, in allen Bereichen und Schichten der Gesellschaft mehr soziale Probleme auftauchen, als in Ländern wie Schweden oder Japan, wo der Unterschied zwischen oberen und unteren Einkommensgruppen nur das Zwei- oder Dreifache beträgt.“Die Ergebnisse sind unabhängig von kulturellen UnterschiedenDie statistischen Daten der Weltbank stammen aus Erhebungen in den fünfzig reichsten Ländern der Welt. Wilkinson meint aber, dass die hieraus gezogenen Schlussfolgerungen weitreichendere Gültigkeit haben. Um sicherzugehen, dass ihre Ergebnisse nicht auf kulturelle Unterschiede zurückzuführen sind, analysierte das Forscher-Duo Daten aus allen fünfzig US-Bundesstaaten und kam zu denselben Resultaten: Die Staaten mit den größten Einkommensunterscheiden litten am stärksten unter sozialen Problemen und mangelndem gesellschaftlichen Zusammenhalt.”Ich hatte zwar immer vermutet, dass eine Gesellschaft, in der mehr Gleichheit herrscht, in Sachen Zusammenhalt besser abschneidet,“ sagt Wilkinson. ”Ich hatte aber immer gedacht, dass ein feststellbarer Effekt nur in einer Art Utopia zu beobachten sei. Dass auch zwischen existierenden Marktwirtschaften dermaßen deutliche Unterschiede bestehen, hätte ich nicht erwartet,“ kommentiert er diese Beobachtungen.Es gibt allerdings auch Anomalien, die seiner These widersprechen: So ist die Selbstmordrate in Gesellschaften mit mehr sozialer Gleichheit höher, ebenso die Zahl der Raucher. "Gewalt wird tendenziell eher gegen andere Menschen und nicht gegen die eigene Person gerichtet“, sagt Wilkinson hierzu. ”Wir vermuten, dass die Mitglieder von Gesellschaften mit größerem Gemeinsinn eher bei sich selbst als bei anderen die Verantwortung suchen, wenn etwas schief läuft. Mit dem Rauchen liegt die Sache etwas anders: Alle Länder folgen derselben Kurve. Die ersten, die damit anfangen, sind die Männer der Oberschicht. Dann folgen die Frauen der Oberschicht und schließlich setzt sich die Angewohnheit auf allen Stufen der sozialen Leiter von oben noch unten durch. Wenn es um das aufhören geht, ist selbiges Muster zu beobachten.“Statusangst führt zu Kriminalität, Gesundheitsproblemen und MisstrauenGleichwohl bleibt der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und sozialen Problemen alarmierend. Ausschlaggebendes Kriterium ist dabei nicht eine theoretisch konstruierte Armutsgrenze, sondern die Wohlstandsdifferenz innerhalb der jeweiligen Gesellschaften. Die USA zum Beispiel haben eine eigene Armutsgrenze. Von den rund dreizehn Prozent der Bevölkerung, die unter dieser leben, haben aber immer noch achtzig Prozent eine Klimaanlage, dreiunddreißig Prozent eine Spülmaschine und fünfzig Prozent zwei oder mehr Autos, womit sie in anderen Ländern nicht unbedingt als arm gelten würden.Was ist es aber genau, das sich in Gesellschaften mit relativ großer sozialer Ungleichheit so verheerend auswirkt? Wilkinson glaubt, dass die Antwort bei psychosozialen Faktoren – Fragen von Hierarchie und Status – zu finden ist. Je größer der Unterschied zwischen Arm und Reich, desto mehr Wert legt der Einzelne auf die materiellen Seiten des Konsums. Welches Auto man fährt, ist in hierarchischeren Gesellschaften von viel größerer Bedeutung als in flacher strukturierten. Einem Dominoeffekt gleich findet Statusangst einen sozial zersetzenden Ausdruck in Kriminalität, Gesundheitsproblemen und Misstrauen.Eine Zeit lang fragten Wilkinson und Picket sich, ob die von ihnen festgestellten Zusammenhänge nicht zu eindeutig seien, um wahr zu sein. Die Korrelationen schienen ihnen so ausgeprägt, dass sie nicht glauben konnten, dass sie noch niemandem aufgefallen waren. Deshalb baten sie Kollegen, andere Deutungsweisen zu untersuchen. Die schauten sich Aspekte wie die Religiosität von Gesellschaften, den Multikulturalismus und unzählige weitere an, überprüften genau, ob nicht Ursache und Wirkung vertauscht worden waren, und es die sozialen Probleme seien, die Ungleichheit verursachen. Doch mit der statistischen Analyse von Wilkinson und Pickett konnte keine der anderen Erklärungen mithalten.Reicht es, das Problem nur zu identifizieren?Wilkinson meint, seinen Teil als Wissenschaftler geleistet zu haben, indem er das Problem identifiziert hat. Lösen sollen es nun Aktivisten und Politiker. Pickett ist da anderer Meinung. Sie ist auch die treibende Kraft hinter dem ProjektEquality Trust, einer Webseite, über die sie sich für Veränderungen einsetzt. ”Es muss doch die Möglichkeit geben etwas zu verändern,“ sagt sie. ”Immerhin kommt eins zum anderen. Es passt in die ökologische Agenda, Ungleichheit zu verringern. Es kommt den Entwicklungsländern zugute, weil Gesellschaften mit geringen sozialen Unterschieden mehr Auslandshilfen zur Verfügung stellen. Und sowieso haben doch alle die Nase voll von der unternehmerischen Gier und der Bonuskultur, die die aktuelle Finanzkrise verursacht haben. Wenn also jemals eine Regierung die Unterstützung ihrer Wählerschaft hatte, um zu handeln, dann doch wohl jetzt.“Einen Verbesserungsvorschlag hat aber auch Wilkinson, er geht an die britische Regierung. ”Es sollte eine Einkommensgrenze für die oberen Gehaltsgruppen geben,“ sagt er auf die aktuelle Situation bezogen. ”Die Reichen haben uns den Schlamassel eingebrockt, nun sollen sie uns auch wieder heraus führen.“ Ob die Politik auch die Stirn habe, diejenigen zu düpieren, die sie so lang eifrig umworben habe, sei eine andere Sache, fügt er hinzu. "Aber Träumen kann man ja immer."In der Zwischenzeit zieht Wilkinson sich vor dem Fernseher zurück: ”Die Sendung Paris Hilton's Best Friend hat es mir total angetan,“ lacht er. ”Das perfekte Beispiel für eine dysfunktionale, hierarchische Gesellschaft.“