Vorher im sonnigen Biergarten war mit jedem Schluck die Hoffnung gewachsen. Man musste sich aber auch Mut antrinken, sonst wäre man nicht hingegangen zu Bayern Münchens allerletztem Champions-League-Spiel mit Jürgen Klinsmann als Trainer.
Die ersten Minuten waren gigantisch. Von rechts rief die Südkurve: „Baaayern“. Der Gesang schwappte wie eine gewaltige Welle durch das architektonisch anmutige Stadion, brandete an der Nordkurve und wurde von den Fans mit einem abgrundtiefen „Baaayern!“ zurück in die Südkurve geschickt. Es war einem sofort klar, warum 20-jährigen Jungkickern bei einer solchen Stimmung schon mal die Bodenhaftung verloren geht. Der Lärm wurde immer lauter, schraubte sich empor zum Himmel als der grazile Sosa von rechts flankte und Luca Toni fast das 1:0 gemacht hätte. Alle waren aufgestanden. Riefen. Klatschten. Dachten: Wenn jetzt ein Tor fällt, ist alles möglich. Unten an der Seitenlinie stand Klinsmann. Der Bäckerssohn. Unsere Sympathien, man will das gar nicht verhehlen, waren bei ihm, dem ehrgeizigen, jungenhaften Schwaben. Dem durchtriebenen Schwalbenkönig, der sich in seinen Vertrag bei Tottenham die Garantie auf einen Platz in der Startelf reinschreiben ließ. Klinsmann, dessen aufrechtes Lächeln eine Unschuld besitzt, „die kein Herz vergisst“ (Bild). Da stand er, gestikulierte, ruderte mit den Armen – er hatte die Bayern neu erfinden wollen, hatte Buddha-Figuren aufgestellt, Sprachkurse und moderne Spielsysteme eingeführt, hatte die Spieler wie Erwachsene behandeln wollen. Von alldem ist heute nichts mehr zu sehen. Die hilflose Taktik der Bayern besteht inzwischen darin, den Ball irgendwie zu Ribéry zu spielen.
Nach 30 Minuten dann die spielentscheidende Szene: Klinsmann setzte sich. Eine Geste wie ein Kommentar. Heute Abend spielten Jugendspieler gegen ihre Idole (Ottl gegen Messi, oder schlimmer noch: Lell gegen Iniesta). Bei manchen Duellen dachte man auch: Väter gegen ihre talentierteren Söhne (Zé Roberto gegen Daniel Alves etwa oder Van Bommel gegen Touré). Und Barcelona? Die spielten so, wie Klinsmann es eigentlich mal den Bayern beibringen wollte: Aus einer erstaunlich kompakten Abwehr heraus produzierten sie hochintellektuellen Tempo-Fussball, bei dem im Schnitt nur 1,3 Sekunden zwischen Ballannahme und Weitergabe verstrich. Fast jeder zweite Pass wurde direkt gespielt, trotzdem kamen mehr als 70 Prozent der Pässe an.
Wir saßen in Block 247, Reihe 18, Platz 1. Das ist auf Höhe des Strafraums und so durften wir aus nächster Nähe die größte Baustelle im Bayernspiel beobachten: die rechte Abwehrseite. Lell gegen Iniesta, das erinnerte an McCains Versuche gegen Obama. Hölzern, frustriert, unmodern – letztlich: chancenlos. Es überraschte, dass Lell nach dem 1:1 (genialisch eingeleitet von Iniesta) seinem Gegenspieler nicht auch noch gratulierte. Hatte Lell dann doch mal den Ball, schlug er ihn blind nach vorne oder passte ausgerechnet auf Ottl. Ottl, der in Sachen Ängstlichkeit Lell in nichts nachstand, und dem Messi im Sprint auf der Kurzstrecke vier Meter abnahm.
Nach dem 1:1 machten die Barca-Fans auf sich aufmerksam. Es war zum Heulen: Sogar ihre Gesänge waren besser. Die Stimmen klarer. Die Tonlage eindeutiger. Die Bayern-Fans antworten einfallslos: „Bayern, Bayern!“. Irgendwann riefen sie das obligatorische „Klinsmann raus!“. Dann: „Vorstand raus!“. Etwas später besangen sie Amateur-Trainer Herman Gerland, dann sogar Lothar Matthäus. Das gilt als feinsinniger Humor. Nicht mal die Fans passen zum Anspruch des Clubs, international Standards zu setzen. Im Stadion war es inzwischen so ruhig geworden, dass wir mithören konnten, wie hinter uns ein Vater seiner Tochter die Auswärtstorregel erklärte. Es war Zeit zu gehen.
Nach dem Spiel wurde man von den Massen aus dem Stadion geschwemmt, vorbei an geschlossenen Devotionalen-Ständen zur U-Bahn. Der Menschenstrom war still und zäh. Und man fragte sich so einiges. Zum Beispiel, warum die Schweizer Star-Architekten Herzog und de Meuron keine U-Bahnstation in ihr Superstadion bauen ließen, sondern stattdessen die Menschen auf einen kilometerweiten Gewaltmarsch schicken mussten? Vor allem aber schwebte eine große Frage über den 60.000 hängenden Köpfen: Warum ist Bayern so schlecht? Die Antworten waren schwerer zu finden als eine Münchner Kneipe, die nach Mitternacht Bier ausschenkt.
Lag es an Luca Toni, dessen ungelenke, nach vorne gebeugte Haltung bei der Ballannahme an einen Pottwal erinnert, der sich für die Paarung in Position bringt?
Lag es an der Tatsache, dass man ohne Keeper in die Saison gegangen war?
Lag es am Unwillen der Bayernspieler, wenigstens nicht schlechter zu spielen?
Erstaunlicherweise fehlte den Bayern – bei allen fußballerischen Mängeln – vor allem das, was sie jahrelang ausgezeichnet hat: der Glaube an das eigene Gelingen. Klinsmann war das Paradox gelungen, bei dem Versuch modernen Fußball einzuführen, jeden Spieler jeden Tag ein bisschen unsicherer zu machen. Der Vorstand wiederum machte den Trainer Klinsmann jeden Tag ein bisschen schlecht. Allen voran der Kaiser ohne Reich: Beckenbauer. Der ist zwar, wie Insider berichten, seit Jahren abgeschnitten von den Informationstransfers der Führungsetage. Trotzdem steht er sinnbildlich für die Führungsriege, die den Verein zu dem machte, was er mal war. Leider auch zu dem, was er jetzt ist. Dass Klinsmanns Reform-Fußball nach der Heimniederlage im Oktober gegen Werder Bremen vorschnell gestoppt und er gezwungen wurde, wieder das biedere 4-4-2 aus der Hitzfeld-Ära zu spielen, scheint im Nachhinein der gröbste Fehler des Managements.
Später schrieben einige Tageszeitungen, Bayern hätte sich mit dem Barca-Spiel rehabilitiert, aber das muss ein anderes Spiel gewesen sein. Wer vor Ort war, weiß, dass der FC Bayern vielleicht das fürchterlichste aller Fußballerschicksale erleiden muss: Einsehen, dass es das, wovon man träumt, so nicht gibt.