In der Diskussion um die Frauenquote für Aufsichtsräte wird darüber gestritten, ob sie die Verfassung verletzen würde. Die Quote sollte erst einmal ausprobiert werden
Das Gute an dieser Frage ist, dass sie schon lange diskutiert wird – auch wenn sie manchen heute wahnsinnig neu vorkommen mag. Bereits in den achtziger und neunziger Jahren gab es eine breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Vereinbarkeit von Quoten, Gerechtigkeit und Recht. Da die vorherrschende politische Meinung seither jedoch grundsätzlich dagegen eingestellt war, hat sich aus den wissenschaftlichen Überlegungen bislang keine nennenswerte politische oder gesellschaftliche Debatte entwickeln können.
In meinem letzten Beitrag habe ich versucht zusammenzustellen, welche Faktoren dazu führen, dass bis heute Frauen und Männer unterschiedlich in bestimmten Berufs- und Einkommensgruppen vertreten sind. In der Soziologie und Psychologi
d Männer unterschiedlich in bestimmten Berufs- und Einkommensgruppen vertreten sind. In der Soziologie und Psychologie sind diese Phänomene recht gut untersucht. Die Mehrheit der WissenschaftlerInnen geht heute davon aus, dass es weder a) biologische oder genetische Gründe dafür gibt noch b) die unterrepräsentierten Gruppen einfach nicht wollen – beides klassische Argumente von konservativer und liberaler Seite. Vielmehr gebe es nach wie vor strukturelle, sozialisatorische und kulturelle Faktoren, die zu den Unterschieden führen.Im Grundgesetz steht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Die Wortinterpretation allein des Satzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ hat unzählige juristische Werke gefüllt. Zum einen leite sich daraus ein Verbot der rechtlichen Ungleichbehandlung von Männern und Frauen her, das für Gesetzgeber, Exekutive und Rechtssprechung gelte. Diese formale und rein rechtliche Gleichberechtigung wird im Grunde nicht in Frage gestellt.Doch mit dem Begriff „gleichberechtigt“ könnte auch ein Zustand, der über rein rechtliche Fragen hinausgeht, gemeint sein, wie er im Grimmschen Wörterbuch zu finden ist: "vornehmlich zur Bezeichnung eines rechtlichen, eines staatsbürgerlichen, eines politischen Verhältnisses u. ä. innerhalb einer übergreifenden Ordnung, 'mit gleichem Rechtsanspruch, gleicher Verfügungsgewalt, gleicher öffentlicher Anerkennung ausgestattet'" und auch im Brockhaus findet sich unter Gleichberechtigung die Formulierung „Gleichheit von Mann und Frau hinsichtlich aller Rechte und den Möglichkeiten, die wahrzunehmen, der alltäglichen Pflichten usw.“ Ginge die Wortinterpretation von Artikel 3 des Grundgesetzes mit einer breiteren Auffassung von „gleichberechtigt“ einher, würde die „gleiche öffentliche Anerkennung“ und die tatsächliche Möglichkeit der Ausübung dieser rechtlichen Gleichheit in den Fokus gerückt werden müssen und die Beseitigung der Nachteile, die noch bestehen, aktiv angegangen werden.Individuelles Recht versus gesellschaftliches ZielMan kann deshalb zu dem Schluss kommen, dass der zweite Satz zur tatsächlichen Förderung der Gleichberechtigung ein Widerspruch zum ersten Satz ist, demzufolge Frauen und Männer rechtlich nicht ungleich behandelt werden dürfen. Ein Widerspruch, da sich aus dem ersten Satz ein starkes individuelles Recht auf Gleichbehandlung in allen Situationen herleitet – aus dem zweiten ein gesellschaftliches Ziel: Die Gleichstellung von Männern und Frauen in der sozialen und ökonomischen Realität der Gesellschaft. Das Diskriminierungsverbot bezieht sich damit auf Männer und Frauen gleichermaßen. Die kompensatorische Funktion des zweiten Satzes von Artikel 3 bezieht sich in erster Linie auf Frauen – denn sie sind die tatsächlich bisher benachteiligte Geschlechtergruppe, zumindest in Fragen der Erwerbschancen.Es gibt also rein rechtlich betrachtet einen Konflikt zwischen dem gesamtgesellschaftlichen Anliegen, mehr tatsächliche Gleichstellung für Frauen zu erreichen und dem individuellen Recht der Männer auf formale Gleichbehandlung. Dieser Konflikt sollte so „sanft“ wie möglich gelöst werden – aber das Grundgesetz verpflichtet streng genommen zu einer Lösung.Als Heide M. Pfarr sich vor über 20 Jahren mit dieser Thematik befasste, kam sie zum Schluss, dass Quoten mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Damals bereits stellte sie fest, dass eine tatsächliche Gleichberechtigung im politischen und ökonomischen Bereich der Gesellschaft, die vor allem auch auf der gleichen Möglichkeit der Wahrnehmung der Rechte beruht, nicht gegeben sei, worin sich für sie die Legitimität und Vereinbarkeit von Quoten mit dem Grundgesetz begründete. Und seit über 20 Jahren hat sich an diesem Zustand auch nichts geändert – sind wir der Lösung, zu der uns das Grundgesetz verpflichtet, kein Stück näher gekommen.Eine letzte Betrachtung soll der Frage gelten, ob und inwiefern das relativ neue Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG, umgangssprachlich: Antidiskriminierungsgesetz) eine Quote ermöglichen oder sowieso verbieten könnte. Denn prinzipiell konkretisiert es Artikel 3 des Grundgesetzes erheblich und verbietet – grob gesprochen– jegliche Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts (und anderer personenbezogener Merkmale wie Rasse und ethnische Herkunft, Religion, Behinderung etc). Doch es ist eine Lücke im Gesetz: Wenn die Ungleichbehandlung dem allgemeinen Abbau der Diskriminierung einer Gruppe dient, könnte eine Ausnahme gemacht werden.Endgültig beantwortet werden kann diese Frage an dieser Stelle leider nicht, denn die bisherige Rechtssprechung im Rahmen des AGG lässt noch keine Schlüsse zu. Wie so oft, können sich die jeweiligen Wortinterpretationen unterscheiden und es wird mit Sicherheit auch hier Konflikte zwischen der Umsetzung des einen, gesamtgesellschaftlichen Zieles und des anderen, individuellen Rechtes geben. Es bleibt aber festzustellen, dass Quoten im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Diskussion als legitim und sogar in Betrachtung aller bisheriger Umstände als grundrechtlich geboten angesehen werden können.Einfach mal ausprobierenBliebe nur die Frage der genauen Ausgestaltung. Eine Quote von mindestens 40 Prozent beider Geschlechter, wie sie in Norwegens Aufsichtsräten praktiziert wird, ist recht starr, sie darf nicht unterschritten werden und GegnerInnen wittern hier Diskriminierung – juristisch gesehen eine Unvereinbarkeit mit dem AGG. Wie aber schon geschildert, findet hier vor allem eine individualrechtliche Ungleichbehandlung statt (wenn überhaupt! – denn die vermeintliche Unterqualifizierung von Frauen konnte in Norwegen dank beherzter Maßnahmen schnell behoben werden) – gesamtgesellschaftlich würde die Situation für Frauen immerhin ein klitzekleines bisschen verbessert und ein solches Gesetz hätte bestenfalls eine Strahlungswirkung auf weitere gesellschaftliche Bereiche. Es gibt also einen großen Unterschied zwischen Gleichberechtigung als Zielsetzung und Gleichberechtigung als Recht!Da weiterhin strittig ist, ob ein Programm der Bevorzugung die Zielsetzung tatsächlich fördern würde, es aber durchaus plausible Argumente dafür gibt, sollte es vielleicht einfach einmal ausprobiert werden: Mit einem automatischen Verfallsdatum versehen, könnte ein tatsächliches Quoten-Gesetz und die juristische wie soziologische Diskussion, die es befeuern würde, Klarheit schaffen, und wäre bei völliger Untauglichkeit nach dem Haltbarkeitsdatum automatisch wieder vom Tisch. Es hätte aber immerhin endlich einmal die Chance gehabt, sich zu beweisen. Und die ideologischen Grabenkämpfe bekämen einen realpolitischen Bezugspunkt.