Allgemeine Bildungsstandards sollen das Allheilmittel für die blamierte deutsche Bildungslandschaft sein: Doch nicht nur für unsere Autorin ist Bildung mehr als Ökonomie
Auf der einen Seite streiten sich BildungspolitikerInnen aus Bund und Ländern und aus den verschiedenen Parteien über nichts, als über das Schulsystem. Auf der anderen Seite sind sich beinahe durch die Bank alle einig, dass eines der wichtigsten Instrumente zu Befreiung der Republik aus dem PISA-Bildungsschlamassel die sogenannten Bildungsstandards sind. So wundert es auch nicht, dass der neue Präsident der Kultusminister-Konferenz (KMK), der Hamburger Bildungssenator Ties Rabe von der SPD, gegenüber der Presse am Wochenende verlauten ließ, seine obersten Prämissen seien Bildungsstandards und eine bessere Berufsbildung.
Er bringt damit die beiden kleinsten gemeinsamen Nenner des ansonsten sehr diversen Haufens der KMK auf den Punkt. Bereits in den Jahren 2
n Jahren 2003 und 2004 verabschiedete sie ein umfassendes Konzept der Qualitätsentwicklung für das Bildungssystem, dessen zentraler Angelpunkt die Bildungsstandards sind, die durch ein umfassendes Bildungsmonitoring, also Vergleichsarbeiten an den Schulen, zu sichern seien. Wir erinnern uns: Die erste PISA-Studie in Deutschland wurde Ende 2001 veröffentlicht. Die zwei wesentlichen Ziele waren eine Überprüfung der Leistungen sowie eine gezielte Schul- und Unterrichtsentwicklung auf der Basis von empirischen Befunden. Das Konzept dieser Standards ist weltweit verbreitet und die Idee dahinter reicht bis an den Anfang des vergangenen Jahrhunderts zurück – in eine Zeit, in der europaweit eine Art „Verwissenschaftlichung“ der Pädagogik einsetzte.Bereits um 1940 führte Schweden standardisierte Leistungsmessungen ein. In den USA kamen sie in den 1970er Jahren. Und auch in Deutschland wurde das Prinzip erstmals 1970 erwähnt und vorgeschlagen – jedoch nicht weiter verfolgt. In den 1980er Jahren rückte in den Fokus der globalen pädagogischen Entwicklungspolitik die Effektivität und Effizienz der Bildung. Seither befassen sich Weltbank und OECD intensiv mit Instrumenten, die ihrer Meinung nach universell anwendbar sind und zu mehr Wachstum und Wohlstand in der ganzen Welt führen sollten. Neben Dezentralisierung, Liberalisierung und Gutscheinmodellen sind Bildungsstandards und Leistungsmessungen für diese Institutionen ein Patentrezept. Diese Ökonomisierung der Bildung entspricht dem derzeitigen Zeitgeist.Was heißt normal?Das 12-jährige Gymnasium, die Art der Ausgestaltung von Bachelor- und Master-Studiengängen in Deutschland – der Fokus liegt auf einem physikalischem Begriff von Leistung: Die Leistung ist umso besser, je mehr Arbeit in so wenig Zeit wie möglich erledigt wird. Doch neben dieser Ökonomisierung gibt es noch eine viel weitreichendere und grundlegendere Kritik am Konzept der Bildungsstandards: Kann Bildung überhaupt standardisiert werden? Was bedeutet es, wenn wir unseren Kindern während ihrer Schulzeit ständig ein Feedback darüber geben, ob sie im Bereich des „Normalen“, also des Durchschnitts liegen?Statistiken und Auswertungen spielen bei der Konstruktion dessen, was normal ist, eine wichtige Rolle – nichts sonst ermahnt uns der Anpassung derart eindrücklich, wie ein unterdurchschnittliches Testergebnis. Das hat die gesellschaftliche Reaktion auf PISA gezeigt. Aber kann Bildung tatsächlich etwas sein, das „normal“ und „durchschnittlich“ sein soll? Gunter Dueck, Mathematiker, Philosoph und Internet-Visionär zeigt diesem Denken seine Fehler auf: Es ginge hierbei nicht um eine persönliche Entwicklung, um die Fähigkeiten und Chancen von Individuen, sondern „offiziell sollen Sie zuallererst funktionieren.“ So entstünde auch die Definition der sogenannten „Exzellenz“: Exzellent seien in unserer Standard-orientierten Denkweise eben all jene, die den Leistungstests standhielten, die keine Fehler machten. Die KritikerInnen der Leistungsmessungen werfen zynisch ein: Ja, es käme gelegentlich auch einmal vor, dass ein Test die Bildung widerspiegele. Gelegentlich.Das föderale System und die Fehleranfälligkeit der Testdurchführung an sich sind weitere Probleme – aber das würde jetzt zu weit führen. Auch will ich gar nicht erst davon anfangen, wie die Leistungsmessungen von lokalen Politikern als Machtinstrument in Wahlkämpfen oder zur Denunziation anderer instrumentalisiert werden (dazu bei Gelegenheit eine eigene Kolumne).Bedeutsamer ist es, dass wir uns ernsthaft der Frage stellen: Welchen Begriff von Bildung wollen wir in dieser Gesellschaft vertreten? Denn in der politischen wie in der medialen Debatte werden „Bildung“, „Qualifikation“ und „Kompetenzen“ semantisch kaum mehr voneinander getrennt und in einen schlabbrigen Bildungsbrei verwandelt. Qualifikationen und Kompetenzen lassen sich standardisieren – Bildung aber ist viel mehr. Bildungsstandards sind ein Oxymoron – das sollten wir uns hinter die Ohren schreiben. Zumindest hier in Deutschland. Auch in Finnland gibt es ein National Core Curriculum, das zentrale Lernziele formuliert. Doch die finnische Schule geht mit einem anderen Verständnis von Lernen, Kindern und Unterricht an die Sache heran: die Schüler selbst bestimmen dort ihr Lerntempo, ihren Stoff und ihren Rhythmus – freier Unterricht und offene Klassen setzen auf die freie und selbstbestimmte Bildung. Das ist nur leider völlig undeutsches Denken und der starke Wunsch vieler, diese Herangehensweise könne zu den kleinsten gemeinsamen Nennern der KMK werden – bleibt wohl leider noch auf Jahrzehnte eine schöne Illusion.Die Autorin hat unter dem Titel „Bildungsstandards als universelles Instrument: Grenzen, Konflikte und Herausforderungen am Beispiel VERA in Deutschland“ ihre Abschlussarbeit im Fach Erziehungswissenschaften geschrieben. Die Arbeit ist in ihrem Blog verfügbar.