Der Kapitän geht immer als Letzter von Bord? Auf der Titanic galt das noch. Beim Unglück der Costa Concordia war das jetzt anders. Ist ein weiterer Mythos verblasst?
Sie schwimmen nicht in Geld. Kapitäne sind mythische Figuren. Sie genießen Anerkennung, weil sie für das, was sie tun, leben. (Weshalb sie normalerweise bis zuletzt auf dem Schiff bleiben.) Und weil ihnen andere wichtiger sind als sie selbst. Kapitäne sollten daher nie als Privatpersonen betrachtet werden. Ungefähr so wie Bundespräsidenten. Je nach Persönlichkeit und gesellschaftlichen Umständen gelingt dies den einen mehr, den anderen weniger.
Francesco Schettino, Costa Concordia
Was tat der Kapitän der Costa Concordia nach dem Unglück? Er verließ sein Schiff. Man fand ihn mitten in der Nacht am Strand, vor dem die Aufbauten des halb versunkenen Kreuzfahrers hoch aus dem Wasser ragten. Der Strand war voller Menschen. Francesco Schettino
Francesco Schettino wurde erkannt. Beamte der Küstenwache traten auf ihn zu und fragten, warum er nicht an Bord sei, warum er sein Schiff verlassen habe. Die Männer meinten es gut: Er könne jetzt noch zurückkehren, sagten sie. Aber Schettino verschwand. Er lief zum Hafen und stieg in ein Taxi. Wohin wollte er? Er befand sich auf Giglio, einer kleinen Insel. "Bringen Sie mich weg von hier", soll er zu dem Fahrer gesagt haben. Der Fahrer, der längst im Bilde war, antwortete: "Kommandant, ich kann Sie zu mir bringen." Der Taxifahrer nahm den Kapitän der Costa Concordia mit zu sich nach Hause und gab ihm einen Kaffee. Währenddessen lief die Evakuierung des Schiffes weiter, und die Suche nach den Vermissten begann.In dem französischen Film Diva steht eine Frau vor dem Wrack eines verunglückten Rolls Royce Silver Wraith und sagt: "Ich wusste gar nicht, dass ein Rolls einen Unfall haben kann." So kann es einem auch gehen, wenn man die Containerriesen, die Supertanker und die schwimmenden Kreuzfahrtpaläste sieht, die heute die Tonnage-Listen der Schifffahrtsregister füllen. Aber jedes Schiff kann sinken. Die Bilder der Costa Concordia erinnern einen wieder daran. Wie der riesige Kadaver eines an den Strand gespülten weißen Wals liegt es vor der Insel Giglio.Es gibt Wracks, die bleiben liegen, wo sie aufgelaufen sind. Der Kakao-Frachter Ondo geriet an einem stürmischen Dezembermorgen des Jahrs 1961 auf den Großen Vogelsand, eine Sandbank in der Elbmündung. Schon beim Übersetzen der Lotsen war es zu einem Unglück gekommen. Das Versetzboot schlug in der rauen See der Außenelbe um, der Lotse und die Bootsleute versanken im Strom. Die Ondo wurde nordwärts getrieben, wenige Minuten später bekam sie Grundberührung. Kapitän Farquhar verließ als Letzter sein Schiff. "Er weinte wie ein Kind", sagte sein erster Offizier später.Die Ondo liegt da immer noch auf Vogelsand, über vierzig Jahre danach. Der feine Mahlsand hat sie nicht mehr freigegeben. Dabei haben immer wieder Bergungsreeder versucht, das Schiff freizuschleppen. Wer ein Schiff aufbringt, das von seinem Kapitän verlassen wurde, darf es behalten. Es hat auch einen wirtschaftlichen Grund, dass der Kapitän bis zuletzt bleibt.Der Kapitän der Costa Concordia ist nicht geblieben. Er hat das Schiff verlassen und wird jetzt der "feige Kapitän" genannt. Feigheit? Francesco Schettino stammt aus Sorrento. Die Stadt liegt auf einer Halbinsel, im Norden sieht man Neapel und die blaue Bucht. Das Leben der Leute hier ist auf das Meer ausgerichtet, Fischerei, Tourismus, Handelsflotte, Kriegsmarine. Es ist eine Gegend, liest man, die viele Kapitäne hervorgebracht hat. Schettinos Mutter ist eine geborene Cafiero, sie stammt aus einer Familie von Reedern. Das Erste, was er in jener Nacht tat, war seine Mutter anzurufen: "Mama, es ist eine Tragödie geschehen", soll er zu ihr gesagt haben.Die Hafenkommandantur hat ihn in diesen Stunden immer wieder angerufen. Warum ist der Kapitän nicht bei seinem Schiff? Er soll wenigstens jetzt dorthin zurückkehren! Schettino hat sein Schiff auf einen Felsen gesteuert. Das ist schlimm. Aber schlimmer ist, dass er die Seemannsehre verletzt hat. Auch Diensthabende in der Kommandantur wollten dem Kapitän noch eine Chance geben. Seinen Posten wird er nun verlieren. Das Strafrecht wird sich seiner bemächtigen. Die Zivilgerichte werden Schadensersatz fordern. Aber seine Ehre als Seemann kann er noch retten. Francesco Schettino sagt nur: "Ich bin da nicht und werde auch nicht dahin zurückkehren." Er wurde am Samstagmorgen auf der Insel festgenommen und ins Gefängnis von Grosseto gebracht. Am Dienstagabend ließ ihn der Untersuchungsrichter nach Hause gehen. Er steht jetzt unter Hausarrest.Es gibt eine Last, die wiegt schwerer als die Angst, und das ist die Scham. Jakob AugsteinEdward John Smith, TitanicWas tat der Kapitän der Titanic vor genau 100 Jahren, nachdem das Luxuskreuzfahrtschiff einen Eisberg gerammt hatte? Richtig. Er ging mit ihr und mit weiteren 1.501 Menschen unter. Vorbildlich könnte man das nun nennen. Geradezu paradeprotestantischpflichtbewusst hat sich Edward John Smith erst vom Schiffsjungen zum Kapitän hochgearbeitet, damals in dieser frühen Blütephase des kapitalistischen Wachstumswohlstands, um schließlich ehrenhaft im Eismeer unterzugehen.Damit macht er in jedem Fall eine bessere Figur als sein italienischer Kollege aus dem 21. Jahrhundert, den der Boulevard nun in Badehose und mit Bauchspeck auf den Titelseiten vorführt, weil er sein Schiff zurückgelassen hat. Machen wir uns nichts vor: Was will man aber auch erwarten? Schließlich arbeiten auch Kapitäne in einer kapitalistischen Krisenphase stetig gegen den Abstieg. Per Kreuzfahrt reisen auch nicht mehr die Superreichen, sondern das gewöhnliche internationale Kleinbürgertum, das entweder das Erbe seiner Kinder verbrennt, das Leben im Ruhestand endlich genießen oder die Hochzeit mal in romantischer Zweisamkeit nachfeiern will. Und das alles ganz standesgemäß in einer exotischen schwimmenden Simulation der heimatlichen Kleinstadt (4.200 Einwohner). Da kann man sich im Unglücksfall schon mal sagen: Das kann es im Leben doch nicht gewesen sein! Susanne LangWilliam Bligh, BountyImageprobleme sind für Kapitäne kein ganz neues Phänomen. Das zeigt die Geschichte des britischen Seeoffiziers William Bligh, dem am 28. April 1789 sein Schiff durch den Aufstand der Besatzung abhandenkam. Die Meuterei auf der Bounty ist seitdem in Romanen und Kinofilmen immer wieder erzählt worden – als gerechtfertigte Revolte einer geschundenen Besatzung gegen einen üblen Tyrannen, als kleine Revolution am Vorabend der großen Französischen.Allein, ganz so fies, wie er oft dargestellt wurde, war Bligh nicht. Nach allem, was man heute weiß, war er nicht nur ein hochbegabter Navigator und Kartograf – er war auch kein Prügel-Kapitän. Historiker haben ausgerechnet, dass auf seinem Schiff im Schnitt 1,5 Peitschenhiebe pro Mann ausgeteilt wurden, üblich waren in der britischen Marine zu der Zeit 20 bis 50 Schläge. Bligh sorgte sich um die Ernährung der Mannschaft, bunkerte Sauerkraut gegen Skorbut und kümmerte sich um die Hygiene.Als Kapitän versagte er nur in einem, aber entscheidenden Punkt: der Menschenführung. Es gelang ihm nicht, seine Mannschaft nach fünf Monaten Aufenthalt in Tahiti wieder auf die Entbehrungen einer langen Seereise einzuschwören. Heute würde man sagen, er hatte ein Motivationsproblem. Er verstrickte sich immer häufiger in Streitereien mit seinem zweiten Offizier Fletcher Christian, sodass dieser schließlich den Aufstand anführte. Bligh wurde mit 18 Getreuen in einem Beiboot auf offener See ausgesetzt.Nach seiner Rückkehr nach England sprach ihn die Admiralität zwar von jeder Mitschuld an der Meuterei frei – in die Geschichte eingegangen ist er dennoch als glückloser Kapitän, der sein Schiff durch eigene Führungsfehler verlor. Jan PfaffKäpt’n Blaubär, Fischkutter ElviraDer Bär unter den Kapitänen wäre mit seinem Kutter niemals zu nahe an der Küste entlanggeschippert, nur um Passagiere und Inselbewohner zu beeindrucken. Nie, nie, niemals! Ihm hätte es völlig ausgereicht, Passagiere und sonstige Zeitgenossen mit einer abenteuerlichen Geschichte über ein abenteuerliches Küstenmanöver zu beeindrucken. Denn Walter Moers’ Kapitän hat eine andere Berufstugend verinnerlicht: das Spinnen von Seemannsgarn. Praktischerweise ist das nicht nur riskant und mutig, sondern führt zu unglaublichen Erkenntnissen: "Wenn man die Dinge von oben betrachtet, erkennt man die großen Zusammenhänge." Leider haben nicht alle Navigatoren einen Rettungssaurier an ihrer Seite, der sie die Dinge von oben betrachten lässt. Sollte man ändern! SLSiegfried Rauch, TraumschiffEr flaniert an Deck, plaudert in altväterlicher Manier mit Passagieren an der Reling, mit Fernweh-Blick. Kaputtes Herz? Krebsdiagnose? Der Kapitän des Traumschiffs legt ihnen seine faltige Hand auf die Schulter. "Eine Mumie auf einem Mumienschlepper", nennt Schauspieler Christoph Maria Herbst den ZDF-Käpt’n. Die Brücke an Bord sei "eine Art Palliativstation". Sechs Wochen hat Herbst (Stromberg) auf der MS Deutschland verbracht und hinterher ein Buch veröffentlicht über die bizarre Welt, in die er da geraten war. Der Kapitän dort ist nicht rau, sondern weichgekocht. Er organisiert, schlichtet, schwingt beim Galadinner langweilige Reden. Nur beim Navigieren sieht man ihn nie. Es geht immer nach vorn. Nirgends Sturm, der ihn aus der Kaffeeklatscherei reißen könnte. Vietnam, Papua-Neuguinea, die Malediven? Alles nur Kulisse. Maxi LeinkaufKapitän Ahab, PequodKapitän Ahab ist der finsterste Seeman der Literaturgeschichte. Nachts stapft er mit seiner Beinprothese aus Pottwalkiefer über Deck – seine Matrosen liegen schlaflos in ihren Kojen, hören das Geräusch und fürchten sich. Jeder auf dem Walfänger ahnt schon da, dass die Fahrt kein gutes Ende nehmen wird. Ahab ist der Inbegriff des Kapitäns, der die Sicherheit von Schiff und Crew seinen persönlichen Zielen unterordnet. Verantwortung interessiert ihn nicht. Es geht ihm nur um die Rache an einem Tier, das für ihn das Böse verkörpert – ein weißer Pottwal, der ihm einst ein Bein abbiss. In seinem 1851 erschienen Roman Moby-Dick, oder: Der Wal erzählt Hermann Melville eine Geschichte von Fanatismus, Gruppendynamik und Untergang. Für seinen Plot hatte er ein historisches Vorbild. Im November 1820 wurde das Walfangschiff Essex durch die Rammstöße eines Pottwals im Pazifik versenkt, von der 20-köpfigen Besatzung überlebten nur acht Männer. Melville machte aus diesem Ereignis eine große Parabel auf das Leben. Denn wo könnte ein existenzieller Kampf zwischen Gut und Böse, Hell und Dunkel, Wahnsinn und Klarsicht besser spielen als auf hoher See? japCaptain Picard, EnterpriseJean-Luc Picard ist ein Kapitän, wie ihn sich Jürgen Habermas wünschen würde. Er lenkt die USS Enterprise und ihre Multiplaneten-Crew nicht mit autoritären Anweisungen durch die unendlichen Weiten des Weltraums, sondern er moderiert die Diskurse an Bord. Er analysiert die Aufgaben lange und wählt am Ende immer die klügste Option. Dabei muss man bedenken, dass in der interplanetaren Migrationsgesellschaft des 24. Jahrhunderts Konflikte noch viel schwieriger zu befrieden sind als auf der globalisierten Erde des 21. Jahrhunderts. Und dass die Sternenflotte "von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann", wie es der deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde formulieren würde. Die Sternenflotte setzt voraus, dass all ihre Mitglieder edel, selbstlos und gut sind. Picard geht hier mit gutem Vorbild voran: Kein Crewmitglied wird zurückgelassen. Und Menschenrechte gelten auch für Androiden. japZapp Branigan, verschiedene SchiffeDer Raumschiffkapitän aus der Serie Futurama, die von den Machern der Simpsons erfunden wurde, führt auf den präsidialen Aspekt des Kapitänswesens zurück: Zapp ist zwar reich prämiert – aber auch nur, weil er für einen Orden notfalls seine komplette Mannschaft opfert. Er ist Sexist, dumm wie Heu, ein Angeber. Wenn Kapitäne reich an Anerkennung sind, ist er neureich. Er ist das Gegenteil des Kapitäns – obwohl er Kapitän ist. Seine Erfinder sagen, sie hätten sich vorgestellt, wie Captain Kirk aus der Serie Raumschiff Enterprise wäre, wenn er wäre wie sein Darsteller William Shatner. Der Mythos beginnt demnach in dem Moment zu bröckeln, in dem wir uns einen Kapitän als ganz normalen Menschen vorstellen. Klaus Raab