„Wer will schon Platten von glücklichen Künstlern hören?“ The Ting Tings stellen sich gern als Rebellen dar. Wie geht das, wenn man zugleich für Apple und Fanta wirbt?
Seit Katie White und Jules de Martino alias The Ting Tings vor vier Jahren mit ihrer Dancerock-Hymne „That’s not My Name“ einen Hit landeten, haben sie ihrer Plattenfirma nichts als Ärger gemacht: Sie lehnten es ab, das für 100.000 Pfund gedrehte Song-Video zu veröffentlichen, weil sie sich darin „ausdruckslos“ fanden. Aufnahmen, von denen ihr Label begeistert war, löschten sie. („Wir sind Kontrollfreaks.“) Und das Video zur Vorauskopplung „Hang it Up“ vom neuen Album haben sie lange vor der offiziellen Veröffentlichung bei Youtube hochgeladen.
Gerade haben sie durchgesetzt, dass auf dem Cover ihres neuen Albums Sounds From Nowheresville ein Bild erscheint, das ihnen ein Fan geschickt hat. Darauf sind sie beide a
Übersetzung: Zilla Hofmann/Holger Hutt
ie beide als Skelette zu sehen. Es kommt nicht so häufig vor, dass eine Band ihr Label derart oft düpiert, ohne ernsthafte Konsequenzen hinnehmen zu müssen.Wer sind diese Ting Tings? White ist 29, de Martino 42, beide haben ihr Haar im gleichen Blondton gebleicht, sie unterbrechen einander mit der Vertrautheit von alten Freunden. Ihr erstes Album stieg im Mai 2008 an die Spitze der britischen Albumcharts. Für den Nachfolger brauchten sie knapp vier Jahre.Den Herbst 2010 haben sie in Berlin verbracht, erzählt de Martino, „im Keller eines alten Jazzclubs. Dort haben wir neun Monate lang an dem Album gearbeitet. Als uns das Label dann mit Komplimenten überschüttete, wie wunderbar die Platte sei und wie gut die Songs im Radio wirken würden, fiel uns die Entscheidung nicht schwer ...“ Sie löschten die Aufnahmen kurzerhand.„Wir hatten Leuten von unserem Label, die aus Großbritannien eingeflogen waren, zehn, elf Tracks vorgespielt. Aber es war einfach zu früh. In Berlin haben wir Gefallen an Dance und Techno gefunden und ein paar Dance-artige Songs gemacht. Die Typen von der Plattefirma waren begeistert, weil Dance im Radio gerade total angesagt sei“, sagt White. „Irgendwann haben wir gesagt, wir löschen diese Songs.“ Und dann? „Zwei Wochen war alles ruhig. Sie ließen uns weiterarbeiten und rechneten damit, die Platte bald in die Finger zu kriegen. Schließlich riefen sie an: ,Wie läuft es?‘ Wir: ,Es ist noch nicht fertig.‘ Sie: ‚Schickt uns doch einfach die Demos, die ihr uns vorgespielt habt.‘ Wir: ‚Wir haben sie nicht mehr‘ – dann nur noch Stille in der Leitung. Und wir haben unsere Sachen gepackt und sind nach Spanien gefahren.“Man kann dieses Verhalten ein bisschen besser verstehen, wenn man weiß, wie die beiden sich kennengelernt haben. Sie spielten damals in nicht sonderlich erfolgreichen Bands und lernten sich in einem Studio kennen, in dem sie Nachbarn waren. „Eines Tages redeten wir über Portishead und beschlossen, dass wir neben unseren Scheißbands heimlich versuchen könnten, einen auf Portishead zu machen.“ Mit dem HipHop-DJ Simon Templeman zogen sie in eine leerstehende alte Baumwollfabrik, in der sich verschiedene Künstler eingerichtet hatten. Sie bauten ein altes Nebengebäude in ein Studio um. Sie nannten sich Dear Eskiimo, wurden von der Plattenfirma Mercury unter Vertrag genommen und 2006 wieder entlassen, ohne je etwas veröffentlicht zu haben. 2005 sprach de Martino in einem Interview davon, das Label wisse nicht, wie es die Band vermarkten solle. Musikalisch sind sie aber daran gescheitert, ihren Studiosound auf die Bühne zu bringen, sagt de Martino.Danach versuchten sie es mit dem, was vom Vorschuss von Mercury übriggeblieben war, zu zweit – als The Ting Tings. Den Namen für dieses Projekt entliehen sie einem Mädchen, mit dem White in einem Klamottenladen arbeitete. White wurde zu einer begeisterten, wenn auch nicht besonders begabten Gitarristin. De Martino setzte sich hinters Schlagzeug. Das Songschreiben teilten sie sich. Ihr großer Hit „That’s Not My Name“ entstand noch unter dem Eindruck der Enttäuschung, bei Mercury rausgeflogen zu sein. „In dem Song geht es darum, sich so nutzlos und unsichtbar zu fühlen, dass keiner sich an deinen Namen erinnert“, sagte White einmal. „Es war ein Leckt-mich-doch-alle-mal-am-Arsch-Song.“Dennoch klingt er eingängig. Mitreißende Hooks wie die Yo-Yo-Synthesizer in „That’s Not My Name“ oder der metronomische Bass in „Shut Up And Let Me Go“ sind bei The Ting Tings immer dabei. White spricht ihre Texte eher, als dass sie singen würde. Und das macht sie ganz bewusst: „Ich bin keine großartige Sängerin. Die meisten meiner Lieder schreie ich.“Bei einem ihrer Gigs tauchte im Frühjahr 2007 der Sony-Manager Rob Stringer auf. Es dauerte nicht lang, und sie hatten wieder einen Vertrag bei einem großen Label – der Sony-Tochter Columbia. Die erste Single „Great DJ“ verkaufte sich in den USA einigermaßen, schaffte es in ihrer Heimat aber gerade mal in die Top 40. Im Sommer 2008 belegte „That’s Not My Name“ in Großbritannien Platz eins. Ungefähr zur gleichen Zeit benutzte Apple „Shut Up And Let Me Go“ für eine iPod-Werbung: Aufmerksamkeit genug, um dem Song zu Platin zu verhelfen, als er in Amerika herauskam.Wann soll man aufhören?Es folgte eine anstrengende Tour, Gigs und Festivals, Tage voller Pressegespräche. Während sie Pink auf einer Amerika-Konzertreise begleiteten, packte de Martino der Frust: „Das Publikum hatte Programm-Hefte“, sagt er. Es klingt vernichtend. Er fing an, während des Auftritts Drum’n’Bass-Versionen ihrer Songs zu improvisieren, ohne White zuvor Bescheid zu sagen. Es kam zum Streit, sie drohten sich in einem Hotelzimmer gegenseitig damit, sich mit dem Vodafone-Award aus Plastik zu erschlagen, den sie gerade gewonnen hatten.„Wir haben immer behauptet, wir wüssten, wann die Zeit gekommen ist, mit dem Touren aufzuhören“, sagt de Martino. „Aber in Wahrheit weiß man das nicht, bevor man so erschöpft ist, dass man seinen Manager einen verdammten Hurensohn nennt und ihm vorwirft, er wolle einen umbringen.“Ende 2009 war schlagartig Schluss, als White ins Krankenhaus eingeliefert und schließlich nach Hause geflogen werden musste. Nach einer Erholungsphase war dann Zeit für die zweite Platte. Gott weiß, was die Leute vom Label sich dachten, als sie die beiden in einen Berliner Keller einquartierten. Dass es mit dem zweiten Ting Tings-Album keine einfache Nummer werden würde, dürfte ihnen klar geworden sein, als die Band mit dem Gedanken spielte, das Album mit dem deutschen Wort „Kunst“ zu betiteln. Dann kam die Demo-Vorführung und Whites und de Martinos Entschluss, diese wieder zu vernichten. „Es war vielleicht ein unbewusster Sabotageakt – damit die Dinge sich wieder ein wenig realer anfühlen“, erklärt White. De Martino sagt: „Wir können nur schreiben, wenn es uns schlecht geht. Wer will schon eine Platte von einem glücklichen Künstler hören, der davon singt, dass er am Strand sitzt. Dass würden viele Leute doch gar nicht kaufen.“Schließlich mussten sie sich doch bei Rob Stringer, dem Sony-Manager, der sie unter Vertrag genommen hatte, vorstellen und ihm erklären, warum sie in Berlin die Bänder gelöscht hatten. Es sei um „alles oder nichts“ gegangen, erinnert sich de Martino. „Wenn es blöd gelaufen wäre, hätten wir gehen müssen.“Stringer habe ihnen gesagt, die Hits, die sie bereits gehabt hatten, sollten sie frei machen, nicht hemmen. „Es ist mir egal, ob wir einen Penny mit euch verdienen“, hat er behauptet. Nachdem sie diese „Zusicherung“, wie de Martino es nennt, erhalten hatten, kauften sie sich ein Samurai-Schwert und drehten mit dieser Requisite ein Video auf einem staubigem Skateboardplatz in Alicante. Sie schrieben Songs für das neue Album. Heraus kam dann Sounds From Nowheresville mit seinen Wechseln zwischen Höhen und Tiefen, chartkompatiblem Pop und clubbigeren Nummern – auch vier der in Berlin entstandenen Tracks sind wieder zum Leben erweckt worden.Ob ein Hit im Stile von „That’s Not My Name“ dabei ist? Die Band behauptet, das sei ihnen egal. „Es wäre so einfach gewesen“, sagt White, „im Windschatten des ersten Albums irgendeinen alten Scheiß rauszuhauen und einen billigen Hit zu landen. Aber das wollten wir nicht.“Sie haben die gleiche Haarfarbe, White trägt de Martinos Anorak. Als sie kokettiert, sie sei nicht „heiß“, gibt er mit einem Gentleman-Lachen zu verstehen, dass er das anders sieht – sind die beiden ein Paar? Beide verneinen. Warum nicht? Eine Pause, ausweichendes Gelächter, dann sagt de Martino: „Genauso gut könnte man fragen, warum ich mich nicht in meinen Schlagzeugtechniker Bundie verliebe. Mit dem bin ich auch die ganze Zeit zusammen.“ Wieder eine Pause. Die Band sei fast zu einer Obsession geworden, setzt White zu einer Erklärung an, und de Martino sagt: „Unter diesen Umständen eine normale Beziehung zu führen, funktioniert einfach nicht.“ White: „Wenn wir unser System noch um ein paar Alben erleichtert haben, könnten wir vielleicht … Also ich rede jetzt nicht vom Vögeln, sondern von Beziehungen. Neulich hat uns jemand gefragt, welche Hobbys wir hätten. Wir haben keine! Wir machen das hier 24 Stunden am Tag.“Auf ein Nachhaken sagt White: „Ich möchte mich nicht über persönliche Dinge äußern. Manche Bands gehen damit hausieren. Ich verkaufe lieber ein paar Platten weniger und behalte dafür ein bisschen von mir selbst.“Lieber weniger Platten verkaufen, als in einer bestimmten Werbung zu erscheinen, so definieren sie sich. „Lieber Lieder schreiben, die niemand hören wird, als Dance-Tracks zu komponieren, die im Radio nach denen von David Guetta laufen könnten“ – White würde sich sogar „lieber auf die Füße kotzen“.Kampagne für HilfigerVielleicht waren sie zu lange weg, vielleicht floppt das neue Album und The Ting Tings nehmen denselben Weg wie Dear Eskiimo, Tomkat und TKO – und stehen dann womöglich da wie Idioten. Trotzdem ist ihre Dreistigkeit bewundernswert, bereit zu sein, etwas, das gut läuft, aus purer Sturheit platzen zu lassen.Aber ist ihre Anti-Haltung gegenüber den Plattenfirmen glaubwürdig? Immerhin hat ihr Label dieses Interview arrangiert, nebenan wartet eine Pressedame von Sony. The Ting Tings haben ihre Musik bereits mehrfach für Werbung hergegeben, wie für Fanta oder Tommy-Hilfiger-Kampagnen. „Wir machen unsere Videos selbst, wir machen unsere Platten selbst, wählen selbst aus, mit welchen Marken wir zusammenarbeiten wollen. Das ist nicht schwer“, sagt de Martino. „So etwas macht den Labels Angst. Was bleibt ihnen da auch noch zu tun? Man sitzt bei einem Treffen da und sieht ihre Egos. Es muss um sie gehen – um das, was sie gemacht und entschieden haben.“Es gebe Künstler, die das mitmachen, „dir danach in die Augen blicken und sich wirklich wie Künstler fühlen können“, sagt White und zuckt mit den Achseln. „Das sind einfach andere Persönlichkeiten. Wenn sie Lust haben, um die Welt zu reisen und die Lieder anderer Leute zu singen, damit aber 20.000 Leute zum Weinen bringen … Wir dagegen spielen vor 2.000 Leuten, die zu pogen anfangen.“Aber wer kann schon sagen, welches der richtige Weg ist? Mit diesem Gedanken lassen sie mich zurück.