48-Stunden-Wache

Bon Voyage! Kurs halten

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Unterwegs mit zwei Yachten von New York zu den Bermudas im Sommer 197?: Fire Island liegt nordwestlich hinter dem Horizont, vor uns der offene Atlantik.... ob wir die Inselgruppe wohl treffen?

In den nächsten Tagen und Nächten müssen wir Kurs halten, in die leeren Seekarten tragen wir Uhrzeit, Kurs und Geschwindigkeit ein, um uns einen Ort zu geben...... die Satellitennavigation ist störanfällig.

Wir sind zu sechst auf dem Boot und fahren drei Wachen in der Einteilung 6-6-4-4-4, tagsüber also 6 Stunden im Wechsel mit zwei Freiwachen, nachts 4 Stunden, damit in den kühleren Nachtstunden acht Stunden Schlaf möglich werden.

Ich liebe das Ruder.....das taumelnde, vorwärtsdrängende Schiff an meinen Händen, mit dem Rad möchte man auf jede Bewegung, auf jede Lautveränderung reagieren, jede Welle fordert ihre eigene Überwindung, jedes Wellental will durchquert sein ......vor mir eine moderne, leichte Arche, die uns trägt, zehn Meter in der Länge, darüber die gewölbten Segel, vierzehn Meter hoch der Mast.

In der Dämmerung versinken ringsum die Horizonte, ich sehe den geöffneten Niedergang hinunter in die warm beleuchtete Kajüte, die Jungs machen sich fertig zum Schlafen. Alle liegen bald in meiner Hand.....

In der Nacht auf See hört man den Wind am Segel und das Vorbeistreichen der Wellen, der Gesichtssinn macht Platz für die anderen Sensorien. Man spürt den warmen Wind angreifen, hinter dem Heck gurgelt lebhaft und beständig das Kielwasser, löscht die Furche, die man zieht...... nur ein leichtes Glitzern ermöglicht eine Ahnung von den heraneilenden Rücken der Atlantikdünung. Sternübersät spannt sich das Firmament über die wogende Welt, im Zentrum die Glaskugel, darin schwebt unser Kompass, rot schimmernd beleuchtet, einen halben Arm entfernt.

Soll ich Dich ablösen? fragt der Schatten in Lee zu meiner Linken, und ich lehne ab, mit Dank, mehrfach, auch zum Wachwechsel um Mitternacht. Ich bleibe einfach am Ruder.

Ganz wach spüre ich jede Bewegung unserer Arche, einer Nussschale in dieser nächtlichen Welt, der warme Windstrom, der Sog am Ruder, das leise Brechen der Wellenkämme, die wir übersteigen Minute um Minute, ich spüre auf der Haut, im Ohr, in der Hand, im Wiegen unseres Gefährts, was ich jetzt nicht sehen kann, nicht sehen muss....... gelegentlich ein Blick auf die leuchtenden elektronischen Anzeigen am offenen Niedergang, Windrichtung, Geschwindigkeit, im Schiffsbauch schlafen alle.

Nach der dritten Stunde zeigen sich die ersten Unterschiede am Himmel, die Sterne im Osten verblassen unmerklich, weil sich der Grund langsam lichtet, das Tagesgestirn kündigt sich an und schickt rote Wolken über unsere Hemisphäre....... der Tag wird bedeckt, die ersten Regenwolken schwimmen in unseren Sichtkreis.

Ich falle ab, ich möchte ausweichen! Einer trägt einen Punkt in die Karte, zieht mit Bleistift den neuen Kurs, der Strich trifft nicht mehr die Bermudas, aber bis zu den Inseln ist es noch viele Tage weit..... später spiele ich mit den Wolkenherden, regennasse Nebelwälder und leuchtende Sonnenwiesen treiben über die wiegenden Fluten, am Abend habe ich das Gefühl, den ganzen Tag kreuz und quer durch einen fließenden Labyrinthgarten geflogen zu sein.... Sollen wir Dich ablösen? fragen die Jungs, aber die Antwort kennen sie schon: Ich will die 48-Stunden-Wache fahren.....

Vor dem flammendroten westlichen Himmel treiben wir südostwärts in die zweite Nacht.....schwer wie in einen schlaflosen Traum vom Fahren, vom Schweben, vom Eindringen und Durchdringen, vor mir tanzt rot der Kompass wie ein zuckendes Herz im Glas....Striche und Zahlen verschwimmen, glühen in meinem Hirn wie ein drittes Auge Halte Kurs, sonst verpassen wir die Inseln!..... die Hände am Rad zwei fremde fünfbeinige Tiere Wo ist der Kopf?...... und dann bin ich das Schiff, ich sehe die Gischt am Bug, das Eintauchen in jeden neuen Wellenrücken, jeden Kamm, ich trage die Gefährten dieser Reise, an meinem Bauch treiben schnell die Luftblasen im nachtklaren Salzwasser vorbei, die endlose Strömung der freundlichen Sternenbrise atmet in meinen Segeln, mein fließendes Ich ist irgendwo in den Schiffsrumpf gewandert, in einen kleinen Punkt direkt vor dem Flossenkiel........

Du hast Kurs gehalten, aber Du hast nicht geantwortet, als ich Dir einen Kaffee geben wollte... höre ich später.

Unser winziges Schiff strebt in einen neuen Morgen, gleichgültig und großmütig atmet der Atlantik unter uns..... das Tageslicht holt die verlaufenen Geister zurück an den Platz am Ruder, alle Schemen werden klar, mit der Sonne steigt auch die Hitze, die Selbstprüfung ist vorbei. Ich bin wieder wach, 45 Stunden reichen, denke ich, großzügig schenke ich mir die letzten drei Stunden und verkrieche mich in eine freie Koje im Vorschiff.

Delfine! Delfine! höre ich den Ruf oben auf Deck, und durch die dünne Bordwand kann ich sie schon hören, eine ganze Schule spielt um unser Menschenboot, besonders der Bug hat es ihnen angetan, sie kichern um die Wette und spielen Necken und Wegtauchen..... erst später frage ich mich: Wie haben sie uns eigentlich gefunden?


Hier endet der 69. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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