Am Hades

Elternhaus: Charon heißt der Fährmann, der die Reisenden über den Grenzfluss Styx in die Schattenwelt begleitet

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Schneebeladen der Winter wie selten im Februar 2010: Gleich unsicheren Nachen treiben die Fahrzeuge in gleichmäßiger Reihung über die verwehten Autobahnspuren zwischen Berlin und Hannover, achtsam jedes Schlingern vermeidend..... in die Dämmerung folgen die Lichter weiß auf rot, am Rand auch mal ein Wagen gekentert im Strassengraben, gedreht, zerbeult, verzogen Chrom und Blech, oft schon Blaulicht zur Hilfe daneben.....

Ich muss an eine amerikanische Novelle denken: Schwimmer im dunklen Strom, der Erzähler bringt seine hochschwangere Frau aus den verschneiten Winterwäldern zur Niederkunft in die nächste menschliche Ansiedlung. Ich erinnere nicht mehr, ob die Erzählung ein glückliches Ende fand.

Sie warten auf der Intensivstation, Mutter Schwester Bruder.....die Schiebetür zu seinem Raum öffnet sich leise, im Dämmerlicht blinken Geräte und leuchten Monitore, kaum kenntlich liegt mein Vater still unter der Wärmedecke, dicht über seiner Stirn wurde der Schnitt gesetzt, weit nach hinten geführt, dann in einem eleganten Bogen wieder nach vorne, im linken Ohr endet die Doppelnaht, die Haut geflochten wie dünne Mädchenzöpfe....... die Ärzte haben vor sechs Tagen ein Blutgerinnsel unter dem Schädelknochen entfernt.

Eine Delegation in hellblau...der Chefarzt erklärt mit eindringlicher Stimme, warum es aus medizinischer Sicht notwendig ist, dass mein Vater am Beatmungsgerät hängt, ein dicker Schlauch ist vor sein Gesicht gebunden, daneben unendlich viele dünne, transparente Leitungen und Kabel zu verschiedenen Körperteilen.

Seine Augen sind seit Tagen geschlossen, die Decke hebt sich, senkt sich, hebt sich im Takt der künstlichen Beatmung.

Mein Blick wandert über sein Bett, zwischen den summenden, klickenden, blinkenden, zischenden Geräten durch das große Fenster in das nächtliche Labyrinth der Höfe, Verbinder und Kliniken der Medizinischen Hochschule Hannover, in einen modernen Hades.

Charon heißt der Fährmann, der die Reisenden über den Grenzfluss Styx in die Schattenwelt begleitet.

Für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder äußern kann, verfüge ich:

An mir sollen keine lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden, wenn nach bestem ärztlichem Wissen und Gewissen festgestellt wird, dass jede lebenserhaltende Maßnahme ohne Aussicht auf Besserung ist und mein Sterben nur verlängern würde.

Sehr behutsam fasse ich an seine linke Schulter....... jäh wendet er das Gesicht in die andere Richtung, ein dumpfes Stöhnen dringt aus seiner Brust. Bin ich zu spät? Dies ist der erste Abend.

Ärztliche Begleitung und Behandlung sowie sorgsame Pflege sollen in diesen Fällen auf die Linderung von Beschwerden, wie z.B. Schmerzen, Unruhe, Angst, Atemnot oder Übelkeit gerichtet sein, selbst wenn durch die notwendige Schmerztherapie eine Lebensverkürzung nicht auszuschließen ist.

Wann immer wir ihn brauchten, war er für uns da. Was können wir heute für ihn tun?

Ich möchte in Würde und Frieden sterben können, nach Möglichkeit in Nähe und Kontakt mit meinen Angehörigen und nahe stehenden Personen und in meiner vertrauten Umgebung.

Für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder äußern kann, bevollmächtige ich hiermit als Person meines Vertrauens:

In Deiner Patientenverfügung bin ich an zweiter Stelle benannt. Zweifel und Unruhe bedrängen mich.....muss ich Dein Fährmann sein?

Die bevollmächtigte Person soll an meiner Stelle alle erforderlichen Entscheidungen über meine ärztliche Behandlung treffen und sie mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin absprechen. Sie soll daher vor allem meine Wünsche und Vorstellungen, die ich in der Patientenverfügung niedergelegt habe, berücksichtigen.....

Wo bist Du?

Kannst Du uns vielleicht hören...... spürst Du unsere Wärme?

Kommst Du zurück?

Sie darf auch in sämtliche Maßnahmen zur Untersuchung des Gesundheitszustandes, in ärztliche Eingriffe und in Heilbehandlungen einwilligen, diese ablehnen oder deren Abbruch bestimmen, auch wenn ich an einer solchen Behandlung sterben oder einen schweren oder länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleiden könnte (§ 1904 BGB).....

Als ich am dritten Abend an Deinem Bett stehe, steigt ein fernes Bild aus dem dunklen Grund der Erinnerungen.....sechs oder sieben Jahre alt bin ich, in Hamburg hast Du mich zu einem Stapellauf mitgenommen, und ich erinnere mich jetzt an den Moment nach der Schiffstaufe, an das Lösen der Halter und an jene überraschende Kraft, die den mächtigen Schiffsrumpf sanft abwärts in die Elbe treibt.... jedes Schiff sucht das Meer und weiß doch, dass es dort seinen Untergang findet.

Die bevollmächtigte Person darf über meine Unterbringung mit freiheitsentziehender Wirkung und über freiheitsentziehende Maßnahmen (z.B. das Anbringen von Bauchgurten und Bettgittern oder die Gabe von Medikamenten u.Ä.) in einem Heim oder in einer sonstigen Einrichtung entscheiden, solange dies zu meinem Wohle erforderlich ist (§ 1906 BGB).

Am vierten Abend entfernen sie den Beatmungsschlauch. Besserung seines Zustands sei nicht zu erwarten. Die Maschine schweigt stand by, als wir seinen Raum betreten.

Langsam fasst sein Atem Tritt, zehn Züge, dann Schweigen. Auf dem Monitor über seinem Kopf zeichnet grün der Herzschlag, gleichmütig zieht der Schrittmacher seinen Kurs in die Nacht, darunter wie die Kurven eines Echolots Blutdruck, Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung.... elf Atemzüge, dann Schweigen...... Atem, Pause, Atem.....

Sie haben uns Stühle in den Raum gebracht, für Stunden versinken wir, verharren schweigend, verschmelzen mit den Wänden wie Schatten aus der anderen Welt.

Hier endet der 67. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.

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Geschrieben von

archinaut

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