Geheimnisse der Vorstadt

Bon Voyage! Tritt ein, doch nicht durch’s Tor – Bist Du drinnen, dann gibt es kein draußen

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Erstaunliche Leidenschaften wachsen in den grünen Gartenidyllen dergemächlich entropierenden Vororte von Westberlin. Die stabile Mauer um die Inselstadt bricht die Wellen der Sehnsucht, Stadtflüchter siedeln in schattigen Heterotopien zwischen Gartenzwergen und Rosenhecken. Im Frühjahr 198? überfällt mich ein befreundeter Fotograf mit der Frage: Bist Du eigentlich ein gläubiger Christ? Auf diese intime Ausforschung bin ich nicht vorbereitet, obwohl ich ihm durchaus handfeste Überraschungen zutraue (er hat mir gerade die Fotoserie seiner letzten Ausstellung gezeigt: das Gesicht seiner Lebensgefährtin als Momentaufnahme im kleinen Tod – ich bin also gewarnt!), daher frage ich vorsichtig nach dem Grund seiner Neugier.

Du weißt ja, dass ich früher gedealt habe....bis wir dann aufgeflogen sind, und es war ja auch blöd, was wir da gemacht haben, aber man kriegt ’ne Menge Menschenkenntnis..... wer ist ein guter Kunde, wer braucht welchen Stoff und so........ seit sechs Jahren bin ich absolut clean..... mache Meditationsübungen bei einem Lehrer, das hilft mir, klar zu denken, die Unruhe loszuwerden, mich zu konzentrieren, der Mann ist Arzt und war oft in Japan, bei einem bekannten Lehrer in einem buddhistischen Kloster..... der Arzt ist inzwischen selbst Zen-Lehrer, und er veranstaltet in seinem Haus jedes Jahr eine Übungswoche, ein Sesshin........ dann umreißt er den Ablauf und fragt mich schließlich: Der Sensei möchte, dass ein Video vom Ablauf des ersten Tages gemacht wird, er hat mich gefragt, aber ich will selber in der Gruppe Zazen üben,...... und da Du ja gern etwas machst, was Du noch nicht kannst.....er grinst ..... wollen wir Dich gerne dazu bitten!

Er kennt ein paar Videos von mir, und er weiß, dass ich mich an filmischen Medien probiere, auch einige kleine Auftragsarbeiten als Ablenkung vom Studium nutze....... es wird also schwer, nein zu sagen.

...wo findet das Treffen statt?

In Frohnau, im Norden von Berlin!

..... da gibt’s doch einen buddhistischen Tempel?

Der Sensei hat sein Haus umgebaut, es gibt die Sitzhalle und den Garten, mit dem Buddhistischen Haus hat unsere Gruppe nichts zu tun!

...du bist bei einer Sekte?

Nein, Zen ist der Mut zum Unglauben, Zen-Buddhisten sind Atheisten.... sich selbst befreien, keine autoritäre Gottesvorstellung, aus eigener Kraft gehen.... ein Buddhist respektiert andere geistige oder religiöse Lehren, der Zen-Buddhismus steht auch nicht im Wettbewerb mit irgendwelchen religiösen Richtungen....... esgeht um Selbsterkenntnis, um das Überwinden von Täuschungen, um dieWirklichkeit... aber Du sollst uns nur bei den Übungen filmen, Du brauchst die Gedankenwelt nicht zu teilen... der Sensei wünscht nur Respekt und Diskretion für die Gruppe..... wir können Dir auch etwas Geld zahlen.....

Auch ohne den letzten Hinweis hat er mich natürlich längst neugierig gemacht. Drei Übungen sind wichtige Bestandeile der Rinzai-Schule, erklärt er mir:

Zazen ist schweigendes, gegenstandsloses Sitzen als Alltagsübung.

Teishō ist ein Vortrag des Meisters mit dem Ziel, Denkgewohnheiten aufzubrechen, damit der Weg für die Wirklichkeit frei wird.

Dokusan ist eine Zwiesprache zwischen Meister und Schüler, in dem der Schüler über eine existenzielle Fragestellung nachdenken soll, über ein Kōan.


Einige Wochen später ist es soweit.... eine Sony U-Matic ist organisiert, ein Schwergewicht der Recorder, zwanzig Kassetten mit 30 Minuten Laufzeit, alle Akkus sind geladen, wir stehen vor einem der vielen Vorstadthäuser in Berlin-Frohnau: hohe Kiefern, ein brauner Jägerzaun, seitlich ein Anbau wie eine große Garage, im Garten nichts Auffälliges außer einer Steinlaterne.......hätte mich der Wahlspruch der Gemeinschaft ohne Tor nachdenklich machen sollen?

Alle Dinge sind im gleichen Haus -

Tritt ein, doch nicht durch’s Tor –

Bist Du drinnen,

dann gibt es kein draußen.


Alles ist vorher besprochen, die Teilnahme am Sesshin fordert Schweigen von den Beteiligten. Ich erhalte einen Platz zugewiesen, wo ich die Kamera aufbauen kann, reicht das Licht? Die Teilnehmer ziehen sich um, lassen Schuhe, Hosen und Hemden im Vorraum, sie tragen kimono-artige Kutten und nehmen Platz in der kleinen Sitzhalle Zendō, die von der Straße nicht zu einzusehen ist....... mild fließt das Tageslicht durch die schimmernde Papierwand ein, kein Blick fällt zwischen außen und innen, nach wenigen, kurzen Begrüßungsworten verharren alle lautlos, einige schließen die Augen, Ruhe und Schweigen breiten sich aus vor dem Blick der elektronischen Kamera.

Das Folgende zerfließt in meiner Erinnerung wie ein traumfernes Schauspiel: irgendwann ein zarter Gong, überraschend kräftig wie ein Vaterunser die Rezitation Nam Myoh Renge Kyo, der Tee wird gereicht, eine weitere Phase des Sitzens, Spiel der Bambusflöte Shakuhachi, nach einer geheimnisvollen Choreographie wechseln Stimmungen und Bilder in dieser Arche Buddhas ......stumm suche ich die richtigen Positionen für Kamerastativ und Recorder, wechsle die Akkus zwischen Ladegerät und Maschine.

In der Küche des Hauses wird Gemüse geputzt und Essen bereitet, im Garten wird geharkt und gejätet: auch diese Tätigkeiten als untrennbarer Bestandteil des Übungsreigens, schweigend und konzentriert, ohne Regung der Gesichter, ernst und gesammelt jede Bewegung....... das Blickfeld der Kamera lege ich, als sei eine Skulptur zu erfassen.

Ausgebreitet in der Zendō eine weiße Stoffbahn von Wand zu Wand, niedrige Tische werden herein getragen, zwei Schüler bringen große Töpfe, drei Schalen auf jedem Platz, die anderen Schüler warten dahinter, sitzen auf dem Boden, von der Mitte wird verteilt: eine Schale Reis, eine Schale Gemüse, eine Schale Tee...

....und wieder Sitzen: Tief in der Nacht endet der erste Tageslauf der Übung, das spiegelnde Auge der Videokamera verfolgt, wie die Schüler in der Sitzhalle ihre Schlafmatten ausbreiten, der Raum ist etwas geräumiger als eine Garage, achtzehn Teilnehmer legen sich in zwei Reihen nieder, das Licht wird gelöscht, Kamera - Schnitt.


Wir sichten noch das Material, bevor ich mich niederlegen kann. Nach wenigen Stunden ist meine Nacht zu Ende, um 4.00 Uhr muss ich das Wecken auf mein Videoband bannen, die Morgenrezitation, den ersten Tee (sauer), die ersten Sonnenstrahlen, das erste Sitzen, das Einzelgespräch (Dokusan).... allerdings ist zu merken, dass es für das Video gestellt ist.

Zum Frühstückstee gibt es eine Pflaume, mit einer kurzen Warnung: Pass auf, das ist eine Salzpflaume, Umeboshi.... Ein Biss in die rote Frucht, auf der Zunge zerplatzt eine Salzbombe – schlagartig bin ich hellwach bis in die Zehenspitzen......Später lese ich: In der ... Zeit der Samurai.. bildete die eingelegte Salzpflaume in Japan die wichtigste Feldration der Soldaten. Sie wurde als Würzmittel für Reis- und Gemüsegerichte verwendet und eignete sich aufgrund ihres hohen Säuregehaltes ideal zum Aufbereiten von Wasser und Desinfizieren von Lebensmitteln. Zudem erwies es sich als besonders wirksames Mittel gegen Ermüdungserscheinungen während der Schlacht.

Gegen Mittag hält der Sensei seinen Vortrag (Teishō), kräftig dringt das Sonnenlicht durch die Papierwand, verweht heiter mit dem Wolkenhimmel.

Das erste Tagesrund ist durchquert, wie vereinbart packe ich still die Technik zusammen und verlasse die Räumlichkeiten, das Haus und den Garten im Schatten der hohen Kiefern...... leise murmelt hinter mir ein letztes Nam Myoh Renge Kyo in das helle Tageslicht ......


Das Video kommt nach dem Schnitt auf sechzig Minuten, und später erzählt mein buddhistischer Freund, der Film sei sogar im polnischen Fernsehen gezeigt worden.

Es bleibt mein letztes Video. Ich melde mich zum Diplom.

Diese Welt geht vorüber.

Und alles, das wichtig ist, fliegt vorbei.

Jeder von uns muss von seinem Traum erwachen.

Es ist keine Zeit zu verlieren.



Hier endet der 90. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.


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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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