Namenlos

Folge der Sonne! Peggy und Marlene sind auf dem Weg nach Westen, heute zum Picknick am Pariser Platz

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Durch die Fensterlöcher der Ruinenfront scheint die frühe Sonne eines verheißungsvollen Sommertages, blau leuchtet der strahlendeJunihimmel in den ehemaligen Frühstückssaal des Hotel Adlon. Zwischen den hellgrünen Birkensprösslingen hat Marlene die Picknickdecke über die Moospolster ausgebreitet und summt selbstvergessen eine Melodie.

Peggy packt die Lunchpakete aus und fragt sich dabei, wie weit der Proviant wohl noch reichen wird: „Bald müssen wir jemanden finden, der uns was zu Essen verkauft!“murmelt sie mehr zu sich selbst als zur Freundin. „Vor dem Tor liegt der Tiergarten,“ lächelt Marlene, „keine Angst, wir werden nicht verhungern!“ Durch die ausgebrannten Schaufenster deutet sie hinüber zum Brandenburger Tor, „da draußen haben die Flüchtlinge Gärten angelegt, erzählten die Amerikaner im Hotel...“

„Hoffentlich pflanzen sie Bäume nach,“ argwöhnt Peggy, „wenn sie das vergessen, stirbt der Wald...!“ „Für heute reicht mir der Baumkuchen, den ich in Deinem Körbchen sehe,“ spottet Marlene, „beiß die Zähne fest zusammen, liebe Freundin, ab morgen wollen wir Karotten und Rettiche aus den Ackerfurchen lesen....“

„Am Weg nach Charlottenburg wachsen Kartoffeln, habe ich gehört, die Böden sind sandig!“ erwidert Peggy, „aber vielleicht sollten wir unser Abendessen lieber hier beim Service bestellen...“ Sie schnipst mit dem Finger, aber die Ruine schläft und antwortet nicht. Marlene lacht: „Dafür sind wir zu spät.... oder zu früh, wer weiß schon, ob hier jemals wieder ein Hotel eröffnet wird!“

„In Frankreich habe ich im ersten Kriegsjahr ein altes Haus gesucht.... irgendwo auf dem Land, um eine Künstlerkolonie zu begründen,“ erinnert sich Peggy, „gegen den Krieg und gegen die einrückenden Nazis wollte ich einen ruhigen Ort für die Kunst und für die Menschlichkeit aufbauen, eine Gemeinschaft von Künstlern in blühenden, fruchttreibenden Gärten ... vielleicht finden wir neue Freunde im Tiergarten...“

Die beiden Freundinnen denken an die Reisegefährten im archinaut: Aber keine verliert ein Wort über den Schlossplatz.

„Robin Hood und seine edlen Räuber!“ zwinkert Marlene, „verteilen das Geld der Reichen an die Armen... hoffentlich glauben sie uns, dass wir mittellos sind ... vielleicht treffen wir Deinen blauen Angler, der im Abendlicht an einem verwilderten Teich sitzt und darauf wartet, dass die Goldfische anbeißen...“

Peggy zuckt kurz, aber Marlene hat es bemerkt: „Entschuldige bitte, ich möchte keine alten Wunde aufreißen..... Du wolltest mir mehr von ihm erzählen, aber seinen Namen hast Du mir bisher nicht verraten..“

Peggy schweigt einen Moment, blinzelt etwas unentschlossen in die Sonne..... ihre Augen wandern über verkohlte Balken, geborstene Fassaden und Kamine, ausgeglühte Stahlträger und Pionierpflanzen, die in der Ruine allmählich ein neues Biotop schaffen....

„Seinen Namen werde ich nicht nennen, das habe ich versprochen,“ sagt Peggy leise. Marlene verkneift sich eine ironische Bemerkung.

„Häuser baue ich für andere, hat er mal gesagt, sie werden meinen Namen vergessen und ihr Haus wird ihnen zuwachsen wie ein neues Kleidungsstück, wenn es gut geordnet ist...... an meinem Namen klebt nur, was misslungen ist.“

Mit der Spitze des rechten Schuhs bohrt Peggy in der bröseligen Asche.

„Und wenn ich an ihn denke, habe ich für jede Erinnerung einen anderen Namen, für jedes Licht, für die Stunde im Morgengrauen, für jeden vollen Tag, für die Stunden seiner Verzweiflung, für jede seiner Hoffnungen einen andern Namen, wenn er an einer neuen Idee laborierte, wenn sich endlich alles fügte, wenn er mit leuchtenden Augen vor anderen stand, um sie zu überzeugen...“

„Nennen wir ihn doch Architekt Namenlos,“ schlägt Marlene vor, „ohne Namen könntest Du mir nichts von ihm erzählen!“

Peggy muss lächeln: „So wie diese glamouröse Ruine.....?“

„Wir sollten aufbrechen,“ sagt Marlene, „sonst überrascht uns da draußen vor dem Tor die Dunkelheit.“


Hier endet der 172. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

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