Sassnitz Transit

Bon Voyage! Auch der Wind schweigt still. Schritte knirschen vorbei, werfen keine Schatten.

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Nach Norden treibt der Zug der Deutschen Reichsbahn, teilt weite Ebenen durch eine eilige Diesellok, Waldstücke und Weiden ziehen am Abteilfenster vorbei, eine Schranke gelegentlich, Ackerflächen satt im Grün und sanft gewellt im Sommer 198?... wie ein Bienenstock brummt der Zug, auf den Gängen diskutieren Menschen vieler Zungen, die Abteile dicht belegt bis auf den letzten Platz, Koffer, Taschen und Unförmiges gestaucht in den Ablagen über den Köpfen, finster schaut mein Gegenüber, blickt hinaus in die wandernde Landschaft, dann wieder grimmig zum Gang vor dem Abteil..... schweigend versinke ich in Kontemplation und Lektüre.

Als ich aufwache, ist der Platz gegenüber leer. Der Zug marschiert weiter nordwärts, die Reisenden haben sich ihre Sitz- und Ruheplätze gewählt, jetzt werde ich es wagen, meinen Platz zu verlassen um den Speisewagen zu suchen, Geld und Papiere nehme ich mit.

Rettungslos überfüllt auch das Bordrestaurant der MITROPA...... nur ein einziger Platz ist noch frei...... und wieder sitze ich dem Finsterling gegenüber. Immerhin grüßt er mich mit einem kurzen Nicken....

Gerade steht meine Soljanka auf dem schwankenden Tisch, marschiert schneidig eine Uniform durch den Mittelgang, dreht, salutiert, blockiert den Ausweg, hinter mir tönt das Kommando: Grenzkontrolle der Deutschen Demokratischen Republik, Ausweise und Visa bereithalten!

Mein Gegenüber knurrt düster in sein Weinglas, hörbar nur für mich: Jeder macht sich lächerlich so gut er eben kann.... was mich etwas verblüfft, ist es doch die ersten Bemerkung, die ich von ihm vernehme. Nachdem die beiden Kontrolleure in den nächsten Wagen gezogen sind, löst sich seine Zunge weiter... als Cellist in einem bekannten Klangkörper aus Dresden sei er viel im Ausland unterwegs, das habe seinen Blick auf das eigene Land verändert. Er ist wütend und traurig zugleich. Draußen fällt allmählich die Dämmerung. Der Zug rollt langsamer.

Unter dem dunkelnden Himmel versinkt die Natur hinter uns, langsam treiben Lok und Wagenschlange zwischen hohe Zäune, Stacheldraht und rätselhafte Lagerschuppen..... Stahl schabt über Stahl der Weichen, der Gleise, machtvolle Scheinwerfer setzen die gesamte Reihe der Waggons in eine überraschend strahlende Lichterflut, blenden uns...... jetzt steht der Zug, ein letzter Seufzer der Achsen, dann Schweigen....

Warten.

Alle warten. Die lebhaften Gespräche der Tagesreise: verstummt. Nirgends singt ein Vogel, da bellt kein Hund. Auch der Wind schweigt still. Schritte knirschen vorbei, werfen keine Schatten.

In der Dunkelheit brüllt die Diesellok auf, Schallwellen und Vibrationen, ein Ruck pflanzt sich fort, ein metallenes Stöhnen von Wagen zu Wagen, nur im Schritttempo beginnt der Abstieg in die Finsternis, fast von allein rollen die Wagen, immer wieder zischen und kreischen die Bremsen... zum Greifen dicht schweben Wachstände vorbei, verwittertes Ziegelmauerwerk und gespenstische Signalanlagen, unwirklich das Licht wie weit unter dem Meeresspiegel... ein Tunnel taucht tief durch die Nacht.

Unerwartet lässt der Steilhang uns frei, die Flächen weiten sich, der Zug rollt aus, sogar ein schmaler Bahnsteig wartet unter friedlichen Laternen: Sassnitz-Hafen. Die Fähre nach Schweden liegt bereit, aber ich muss mich verabschieden. Bald ist es Mitternacht, mein Schiff nach Bornholm geht erst morgen früh.

Freundlich lächeln die gewiss blauen Augen des Uniformierten, die weiße Mütze und der Tonfall erinnern mich an Hans Albers: Auf der Reeperbahn nachts um halb eins.... Hafenluft? Lehrt das Meer den weiten Blick? Transitvisum? Setzen Sie sich einfach auf die Bank.... wenn der Zug kommt, wecke ich Sie!

Nein, zum Fähranleger kann ich nicht gehen, also warte ich, bis der Zug in das voluminöse Fährschiff verschwunden ist, das ein aufgewühltes Hafenbecken hinterlässt, bis das Grillenkonzert der warmen Sommernacht allmählich von allen Seiten wieder in die Stille unter das gelbe Licht des Bahnsteigs kriecht. Der freundliche Grenzer mit der weißen Mütze ist im Häuschen an der Schranke verschwunden. Die Glasscheiben sind dunkel.

Ob es hier Kameras gibt?

Ein leerer Bahnsteig bei Nacht. Keine Menschenseele.

Eine Schranke. Ein Warnschild. Staatsgrenze.

....

Keine Bewegung hinter den Scheiben, kein Licht im Häuschen. Garnichts.

Oben am steilen Hang kann ich Häuser erkennen. Schlafende Häuser.

Ich stehe an der Schranke. Sie ist geschlossen. Daneben das Häuschen mit den spiegelnden Scheiben. Dazwischen genug Platz zum Passieren. Sieht er mich? Ist er allein? Wie viele Grenzer bewachen nachts die Grenze im Hafen von Sassnitz?

Jetzt müsste er mich ansprechen, ich bin einen Schritt zu weit.

...

Jede Straße lauf’ ich ab in jener Nacht. In tiefem Schlaf die holzverschalten Häuser hinter baltischen Holzveranden, die Rosen in den Gärten, Büsche und Bäume im fahlen Straßenlicht.

Den Steilhang hinauf, suche den weiten Blick über die nächtliche Ostsee, wo träumende Schiffe zu ahnen sind wie mächtige Tiere auf duftenden Weiden.

Kein Auto ist zu hören, kein Mensch zu sehen, nur eine schwarze Katze mustert mich.

Mit offenen Augen schwebe ich wie ein Schlafwandler, meine Blicke trinken sich nicht satt. Der Konsum schläft, es schlummert das Café, still liegt noch die Backstube.

Welche Fee schützt mich in dieser Nacht? Hat mir einen raffinierten Zauber in den Tarnmantel gewebt?

Den Verlauf der Bahnlinie versuche ich zu treffen, die mich an diesen Ort gebracht. Suche die Zäune, den Lichtschein, der irgendwo die Finsternis durchschneiden muss, aber es gelingt mir nicht. Ob die Bahnlinie verborgen im Tunnel liegt?

Nach Stunden sinke ich auf eine Bank, vor dem dunkelblauen Himmel ragt eine Konzertmuschel auf, verwittert vom Seewind die blasse Farbe.....die ersten Sonnenstrahlen finden sich ein wie zum Konzert, proben noch die Instrumente.

Mit dem Morgenlicht fallen die Dimensionen wieder in den unendlichen Raum der Nacht, vom Kamm der Steilküste hinüber zur samtigen See, wo drei Fähren friedlich auf der Reede schwojen, kaum merklich drehen sie am Anker mit dem sanften Wind.

Die Sonne steigt in den klaren Augusthimmel eines leuchtenden Sommertages im verwehten Jahr 1989.


Nachtrag 1: Zug und Fähre nach Bornholm verlassen Sassnitz pünktlich.

Nachtrag 2: Erst viele Jahre später werde ich in den Notizen meines Urgroßvaters lesen, dass er 1890 als junger Ingenieur den Zufahrtsweg hinab durch die steilen Kreidefelsen angelegt hat, danach die Flächen vermessen zur Anlage eines Schutzhafens für die Fischer.

Hier endet der 99. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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