Schlachthof Bau

Vom Bauen: Eine viergeschossige Bauruine aus der Endphase der DDR soll in achtzehn Monaten zum Gründerzentrum ausgebaut werden... können wir noch gewinnen?

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Wir sind sehr froh über den großen Auftrag in Erfurt, verkündet der Geschäftsführer mit drohendem Blick aus kalten Fischaugen, danach fliegt er zum Bericht nach München. Der ist verrückt, hat uns verkauft als die besten Reinraumbauer der Welt, dabei haben wir so was noch nie geplant! schrillt das Lamento der Kollegen in Leipzig. In achtzehn Monaten bis Ende 200? müssen 23,4 Millionen D-Mark umgesetzt werden, sonst entgehen dem Feistaat Thüringen die zugesagten Fördermittel aus Brüssel. Elf Jahre nach der Wende soll eine viergeschossige Bauruine aus der Endphase der DDR zum Gründerzentrum mit Büros, Labor- und Reinräumen ausgebaut werden.


Bei Termin- oder Kostenüberschreitung haftet der Generalplaner, der alle Architekten- und Ingenieurleistungen erbringt, mein neuer Arbeitgeber, laut Vertrag wird in diesem Fall Honorar in gleicher Höhe einbehalten. Nach zwei Monaten Planungszeit wird gerade die erste Kostenberechnung fertig, liegt fünf Millionen über der ersten Kostenschätzung, die jedoch Vertragsgarantie ist. Bis zur Schlussrechnung sind sechzehn Monate Zeit. Können wir noch gewinnen?

Die Projektteam arbeitet in Leipzig und Karl-Marx-Stadt/Chemnitz: kurz nach der Wende hat der Patriarch der Firma aus München bewährte Planungskollektive in Sachsen und Thüringen verdingt, mit Freunden aus der bundesdeutschen Hochfinanz die dazugehörigen Liegenschaften erworben. Die Westbüros tragen das rote Logo, den Postsozialisten ist das grüne Logo verordnet. Die Vereinigung muss noch warten, aus steuerlichen Gründen, heißt es.

In Berlin sind die Auftragswiesen für Architekten mager geworden, mein kleines Büro ruht jetzt, für eine neue Herausforderung will ich mich bei meinem neuen Arbeitgeber frisch unter vielen hundert Kollegen bundesweit behaupten, vor mir liegt unbekanntes Terrain.....

Am ersten Tag kündigt der Niederlassungsleiter, der Projektleiter wird nach Dresden versetzt, mir wächst das Projekt in Erfurt zu, dreißig Kollegen stehen auf der Teamliste.

Am zweiten Tag bin ich in Erfurt zum Termin mit dem Bauherrn, als Geschäftsführer Fischauge in Leipzig die Kollegin von der Ausschreibung in’s Kreuzverhör nimmt, um ihr die Bedeutung des millionenschweren Auftrags zu verdeutlichen: Wenn Sie das nicht schaffen, können wir den Laden hier dicht machen, und Sie haben bisher immer versagt!

Am dritten Tag fehlt sie, Nervenzusammenbruch! räsonniert ihr Kollege aus Chemnitz: Die haben sie kaputtgespielt, wer weiß, ob sie wiederkommt, muss ich jetzt eben alles alleine machen!.

Eingestellt bin ich als Wessi, muss mich also bald entscheiden: will ich in diesem Becken Haifisch werden oder gehöre ich zum Haifischfutter, zu den Frontschweinen an Computer und Telefon? Nach einem Vier-Augen-Gespräch mit Geschäftsführer Fischauge steht die Richtung fest: wir können keine Freunde werden.

Abends bleiben die Kollegen lange, gelegentlich klingelt das Telefon, Nein, nein, ich muss noch was fertigmachen.... sie stehen spät noch zu zweit, zu dritt im Großraumbüro und fluchen über Fischauge: ER beherrscht ihre Gedanken, auch wenn er weit entfernt ist. Wie kann man konstruktiv arbeiten, wenn Panik und Erniedrigung das Denken verschatten? Lästert Ihr wieder über den Schwarzen Fürst, probiere ich gelegentlich einen bescheidenen Lockerungsscherz.

Der Prokurist kommt mit den Quartalszahlen zu mir. Im vergangenen Monat hat das Projekt die Büros mit rund zweihunderttausend D-Mark Kosten belastet. Erfurt bindet viele Kräfte. Bleibt das so? möchte er wissen. Wir sind gerade in der Leistungsphase fünf, erkläre ich ihm, neun Leistungsphasen kennt die Honorarordnung der Architekten und Ingenieure HOAI, baut stufenweise auf vom Vorentwurf über Ausführungsplanung und Ausschreibung bis zur Bauüberwachung, wir aber fahren eine Gleitende Planung: Planung und Ausschreibung fließen ineinander, wenn die Arbeit auf der Baustelle beginnt, sind die Pläne weiter zu detaillieren, neue Erkenntnisse aus dem Bestand wirken auf den Plan und in die Realisierung. Der Aufwand wird sich in den nächsten Monaten nicht verringern.

Durchsetzungsstark wie ein Steinbeißer ist der Bauleiter aus dem Erzgebirge, den die Chemnitzer auf die Baustelle schicken, sofort schießt er gegen die Leipziger Kollegen: Wo sind die Pläne, seid ihr immer noch nicht fertig?! Unter seiner Peitsche hebt sich der Pulsschlag der Baustelle beträchtlich. Steinbeißer liebt den Geruch von Adrenalin, seine Bausitzungen sind ein Genuss für Masochisten. Wo bleibt die Lieferung? Wann wacht Ihr auf? Warum sind Eure Leute nicht fertig? Wenn ich morgen noch jemanden treffe, den jage ich mit der Latte vom Gerüst!

Gerüchte, Informationen und Daten zirkulieren zwischen den Beteiligten wie ein leuchtender Malstrom, Wie weit ist die Baustelle? Wo stehen die Kosten? Ist der Termin zu schaffen? Woche um Woche muss ich dem argwöhnischen Bauherrn berichten, jeder Nachtrag soll erklärt werden: Ist Ihre Planung unvollständig? Warum haben Sie das nicht vorher gesehen?Hier müssen wieder Nachträge für fünfzigtausend ausgelöst werden, das Budget reicht auf keinen Fall! Sie glauben mir nicht, der 5-Millionen-Schock ist noch nicht überwunden. Aber für jeden neuen Nutzer müssen die geplanten oder bereits ausgeführten Anlagen modifiziert oder ergänzt werden, der Bauherr fordert immer wieder Korrekturen und Optimierungen ... aber kostenneutral! Wir können nicht schon wieder neues Geld beantragen, im Wirtschaftsministerium lachen sie uns aus!

Meine Testosteronwerte müssen inzwischen weit über dem Normalpegel liegen, meine Stimme ist tiefer geworden, unerwartete Probleme beantwortet mein limbisches System mit großzügigen Adrenalinausschüttungen, wie eine Tennismaschine pariere ich jeden Vorwurf, ein wilder Hund, der jeden Verdacht aus dem Weg beißt, der das Projekt gefährden kann.... Blick nie zurück, vergiss die Zeichnung, der Plan ist schon überholt, wenn er ausgedruckt wird, die Leistungsbeschreibung ein Flickenteppich, mach was draus, über hundert Leute täglich auf der Baustelle, such den schnellsten Weg hinab vor der Welle, blick nie zurück, damit Du die weißbrechende Gischt nicht siehst, die Dich überrollen will......

Meine Vermutung ist, dass die Rolle des Architekten in der DDR anders beschrieben war als in der BRD. Während der Westarchitekt nicht nur die gestaltgebende, sondern auch eine prozessführende, moderierende Funktion erfüllen soll, versteht sich der Ostarchitekt als Teilnehmer einer permanenten Planungsrunde, in der pragmatisch, oft auch konträr, über das gemeinsame Ziel verhandelt wird. Über alle Differenzen findet sich das Team mit den unterschiedlichen Fachkompetenzen immer wieder zusammen.

Nichts kann uns aufhalten, nicht die Währungsumstellung mit doppelter Listenführung in DM und in EUR, nicht die Insolvenz der wichtigsten Firma auf der Baustelle, von der die hoch installierten Reinräume errichtet werden sollen. Mit hoher Fahrt prescht das Projekt über die Ziellinie, alle Schlussrechnungen der bauausführenden Firmen sind auf den 1. Dezember datiert, damit die Prüfungen bei uns und beim Bauherrn noch vor Weihnachten erfolgen können, auch wenn längst noch nicht alles auf der Baustelle fertig ist. Der Bauherr wird auf ein Sperrkonto bezahlen, damit der Mittelabfluss vor den Instanzen der EU dokumentiert wird. Die Berechnung des Honorars für die Architekten- und Ingenieurleistungen ergibt sich aus den Schlussrechnungen, je nach Stand der Prüfungen stelle ich Nacht für Nacht eine neue Rechnung auf, bis das Paket nach zwei Wochen endlich stimmt: auf D-Mark und Pfennig, auf Euro und Cent erreichen wir punktgenau die Fördersumme im ersten Bauabschnitt.


Nach langer Vakanz wird der Niederlassungsleiter neu besetzt. Der Neue hat seinen Doktor im Bauingenieurwesen vor ’89 in Moskau gemacht, erzählt man mir, Sie sind ja aus dem Westen, Sie wissen nicht, was das bedeutet....!

Er hat gute Beziehungen, heißt es: Sein Vater war beim Leipziger Stadtarchitekt.... Nennen wir ihn einfach Dr. Vollbart: mit Fischauge versteht sich er sich gut, hört lange zu, lacht an den richtigen Stellen.

Zusammen starten sie dann eine erste Säuberungswelle im Leipziger Büro, Änderungskündigungen gehen an ein Drittel der Kollegen, Wir sind sehr betrübt, dass wir keinen Anschlussauftrag haben.....

Zwischen den Büros in Leipzig und Chemnitz entbrennt ein verlustreicher Kleinkrieg über Monate, nur noch aus der Ferne höre ich dann überraschende Kunde: Fischauge musste gehen, wurde gar abgeführt mit Polizei-Eskorte......

Vielleicht weiß ich jetzt, was es bedeutet, wenn jemand vor ’89 in Moskau studiert hat.....


Hier endet der 102. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

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