"Der falsche Präsident" als Rat gebende Messlatte

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Rezension

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Albrecht Müller – der Mitherausgeber der NachDenkSeiten – machte sich nachdenkend schreibend Gedanken darüber. Das Büchlein: “Der falsche Präsident – Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden”.

Die nach dem Rücktritt von Bundespräsident Wulff unter massiven Zeitdruck erfolgte, sozusagen megakoalitionäre, Einigung (CDU/CSU-FDP-SPD-Bündnis 90/Die Grünen) auf den Bundespräsidentenkandidaten Joachim Gauck ließ keine Zweifel zu: Der künftige Bundespräsident würde Joachim Gauck heißen. Am 18. März wurde Gauck denn auch von Mehrheit der Bundesversammlung gewählt.

Warum dieses Buch?

Am 16. März – also zwei Tage zuvor – kam Albrecht Müllers Büchlein “Der falsche Präsident” in den Buchhandel. Warum hat es der Mitherausgeber der NachDenkSeiten, Albrecht Müller, geschrieben? Gauck war mehrheitlich – unter undemokratischen Ausschluss der Linkspartei – zum Kandidaten bestimmt worden. Und: Gauck würde auch gewählt werden. Kam sein Büchlein nicht eigentlich zuspät? Wollte Müller (Noch-SPD-Mitglied), der an Kritik an der Person Gauck vor dessen Wahl nicht gespart hatte, nun nachtreten, um dem Pfarrer Gauck und künftigen Bundespräsidenten noch eins mitzugeben? Wer so denkt, kennt erstens Albrecht Müller nicht, noch ist er sich über dessen politischen Beweggründe und publizistischen Antriebe im Klaren.

Wir befinden uns (und das europaweit) derzeit in einer schweren Krise. Diese ist nicht zuletzt auch eine Vertrauenskrise bezüglich der herrschender Politik und führenden Politikern. Und zudem angesichts der immer größer werdenden Spaltung der Gesellschaft in arm und reich gleichermaße eine Krise, die weiter an der bereits beschädigten Demokratie nagt. Seit Jahren begleitet Albrecht Müller und seine Mitstreiter diesen gefährlichen Prozess kritisch und beschreibt auf diese Weise die möglichen negativen Konsequenzen eines Weiter-so, indem er eben davor auf den NachDenkSeiten warnt.

Auch wenn der deutsche Bundespräsident kaum über Macht, sondern vielmehr hauptsächlich “nur” über die Macht des Wortes verfügt, muss Albrecht Müller auf Grund seiner langjährigen politischen Erfahrung (Müller war Planungschef im Bundeskanzleramt. Er arbeitete unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt) klar gewesen sein, dass gerade in dieser schwersten Finanz- und Vertrauenskrise seit Jahrzehnten dem Bundespräsidenten keine gerade unwichtige Aufgabe zufällt. Wäre also ein Bundespräsident Gauck die richtige Person auf diesem Platze? Die Hoffnung einer politisch-medialen Megakoalition, Gauck könnte nach zwei gescheiterten Vorgängern in diesem Amte nun endlich der “richtige” Präsident sein, teilt Albrecht Müller nicht.

Joachim Gaucks Botschaft, ein “Empört Euch nicht!”?

Und Müller begründet dies so: Gauck nehme “die aktuellen, großen Bedrohungen unserer Freiheit nicht ernst genug: die Macht der Finanzwirtschaft, den Abbau der sozialen Sicherheit und die Erosion der Demokratie”. Müllers Befürchtung, Gaucks Botschaft klänge “wie ein lautes “Empört Euch nicht!”, weshalb Gauck also das genauerGegenteil von Stéphane Hessel wäre, welcher in seinem millionenfach verkauften Pamphlet an die Jugend “Empört euch!” genau das Gegenteil dessen fordert? Kommt Gauck womöglich deshalb den hierzulande Herrschenden gerade recht, indem der ihnen den großen Beschwichtiger gegenüber dem (kritischer werdenden) Volk macht? Nun, diese Befürchtungen sind – nimmt man seinen Hirnschmalz einmal nachdenkend-nachdenklich zusammen – gar nicht einmal ohne Substanz.

Bisher tönte in Joachim Gaucks Reden und Interviews doch immer wieder der Begriff “Freiheit” (gewissemaßen ein Steckenpferd des Ex-Pastors, betrachtet vor dem Hintergrund Gaucks als unterdrückter DDR-Bürger [-rechtler?]) äußerst laut hervor. Wo andererseits der Begriff Gerechtigkeit und soziale (!) Gerechtigkeit in sagen wir mal – wenn überhaupt- nur in sehr kleiner Münze vorkam.

Albrecht Müllers Büchlein beweist: Der Autor hat “seinen” Gauck gelesen

Entscheidende Passagen in Gaucks Reden oder dessen Äußerungen in Interviews zitiert und analysiert Albrecht Müller sehr präzise und unterwirft sie seiner kritischen Betrachtung. Da ist nichts erfunden. Es sind Gaucks Worte. Und sie sind in der Welt. Ist Ex-Pfarrer Gauck, dem noch immer das Pastorale, wie geölt von der Zunge geht, ein Mann der fraglos ein prächtiger Rhetoriker ist und dem man das nicht nur anhört, sondern auch ansieht. Ist der eloquente Joachim Gauck ganz einfach “Der Beschöniger” (wie ein Kapitel bei Müller überschrieben ist)? Müller arbeitet für seine Leser noch einmal genau heraus, wie es kommt, dass Gaucks Schriften oder dessen gesprochenes Wort bislang öfters zu Missverständnissen Anlass geben konnten. Und Müller sagt es klipp und klar: So kann das als Bundespräsident nicht bleiben. Als Bundespräsident muss man sich deutlich und unmissverständlich ausdrücken. Auch auf die Gefahr hin, anzuecken. Bei wem auch immer. Eingeschlossen die Mächtigen, die uns Regierenden: die Banken, die Bundesregierung und die Landesregierungen, die Vertreter der großen Konzerne und so weiter. All denen, die in ihm vielleicht lieber einen Beschwichtiger sehen würden? Müller verdeutlicht noch einmal, warum Joachim Gauck als ein “Präsident des Sowohl-als-auch” verstanden werden könnte (oder vielleicht selber so verstanden werden will?). Immerhin hat sich Gauck selbst schon mal als ein “linker liberaler Konservativer” bezeichnet. Will er everybodys darling sein? Steckt in ihm etwa doch der Opportunist, dem ihm Kritiker vorwerfen?

Albrecht Müller geriert sich gegenüber Bundespräsident Gauck keineswegs als Oberlehrer

Aber Tipps (und keine schlechten, weil gut bedachten!) offeriert Müller ihm dann schon. So wirft er Gauck etwa umfassend begründet vor, die Macht der Finanzwirtschaft “grob unterschätzt” zu haben. Hätte Gauck sonst die “Occupy”-Protestbewegung einfach so als “unsäglich-albern” abgetan? Ebenso wirft Müller Gauck vor, dieser warne zwar vor “Systemveränderern”, habe aber offenbar “die neoliberale Systemveränderung nicht bemerkt.” Albrecht Müller kann betreffs seiner Anregungen, die er dem neuen Bundespräsidenten anbietet aufzugreifen, aus einem nicht unbeträchtlichen Reservoir aus politischer Erfahrung, die er zudem direkt und quasi in der Schaltzentrale der Macht, im Bonner Bundeskanzleramt sowie seiner Arbeit als Wahlkämpfer, langjähriger Bundestagsabgeordneter sowie Publizist gemacht hat, schöpfen. Albrecht Müller weiß natürlich, dass ein Politiker nicht in allen Fächern bewandert, noch allwissend sein kann. Bundespräsident Gauck rät er deshalb den jeweilig nötigen Sachverstand einzuholen und sich stets gründlich zu beraten.

Was Gaucks Vor-Leben angeht, so ist Albrecht Müller zuzustimmen: “Joachim Gauck spaltet statt zu versöhnen” Und da man Gauck das Etikett “Demokratielehrer” anklebt (und Gauck das womöglich selber gerne (als DDR-Geschädigter) auch mit sich herumträgt), fragt Müller in einem Kapitel denn auch: “Der Demokratielehrer kennt sein Lehrbuch – kennt er auch die Realität?”

Albrecht Müller ist es zu danken, dass er alle wichtige Aspekte und Informationen zu oder über die Person Gauck auf insgesamt wenigen Buchseiten zusammengetragen und kommentiert hat

So führt er uns noch einmal alle daraus erwachsen könnenden Bedenken vor Augen. Den allzu eifrigen Befürwortern einer Kandidatur Gaucks für das Amt des Bundespräsidenten prophezeit Müller, dass sich einige von ihnen (besonders vielleicht die Grünen und die SPD) sich womöglich noch ziemlich über einen Bundespräsidenten Gauck ärgern könnten. Dann zum Beispiel, meint Müller, wenn sich dieser als “TINA-Präsident” erweisen könnte (TINA – nach Margret Thatcher: “there ist no alternative”).

Eine Alternative haben zwar auch wir Bundesbürgerinnen und Bundesbürger nicht, denn: Joachim Gauck ist inzwischen Bundespräsident. Albrecht Müllers Büchlein schreibt aber denjenigen, welche Joachim Gauck überschwänglich mit Vorschusslorbeeren bedachten und dann zum Bundespräsidenten machten und uns, die wir ihn eigentlich hätten besser kennen können, etwas hinter die Ohren. Nämlich, welch Katastrophe ein Bundespräsident Joachim unter Umständen bedeuten könnte, setzte er seine Ansichten (inklusive nicht erkannter eigner Irrtümmer bzw. gezogener falschen Schlüsse) um, die er als Pfarrer, DDR-Geschädigter, “einfacher” Bürger oder reisender Redner in Sachen “Freiheit” in reale Politik um.

Zehn Beispiele am Schluss

An das Ende seines Büchleins hat Albrecht Müller noch einmal die wichtigste Kritikpunkte betreffs Gauck gesetzt. Die zehn Beispiele enthalten Fehleinschätzungen der politisch-wirtschaftlichen Lage, denen nicht nur Gauck sondern die herrschende Politik (und die Meinung machenden Medien!) im Allgemeinen unterliegen. Enthalten sind aber ebenfalls Ermunterungen derart, was nun zu machen wäre, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, um eine geistige Debatte – angestoßen durch den Bundespräsidenten – zu entfachen, welche uns und unsere Demokratie aus der bedrohlichen Misere zu führen imstande wäre.

Albrecht Müller meint damit vor allem die Abkehr vom neoliberalen Irrweg. Wozu jedoch gehörte, dass nicht nur wir – sondern auch ein nunmehrigen Bundespräsident Gauck erkennen müsse, was Müller für “eine Glaubensüberzeugung des neuen Bundespräsidenten” hält, dass die Formel, jeder könne seines Glückes Schmied sein, nicht tragfähig ist und nie tragfähig gewesen ist. Zudem passe eine solche Sicht nicht zur verfassungsmäßig garantierten Sozialstaatlichkeit unser Landes.

Müller hat einen sachlich fundierten Ratgeber verfasst

Ganz im Sinne der u.a. von Mitherausgeber Albrecht Müller betriebenden NachDenkSeiten lädt dieses kleine, im Umfeld der Bundespräsidentenwahl erschienenen, Büchlein zum gründlichen Nachdenken ein. Sowohl den neuen Bundespräsidenten Gauck als auch uns, der wir das Volk sind. Erste Bedenken, das Buch könne zuspät erschienen sein, weil es ja an der Wahl des von einer Megakoalition gekürten Bundespräsidenten Joachim Gauck doch nichts mehr ändern könne, zerstreuen sich nach dessen Lektüre. Zwar stimmt das Zuspät hinsichtlich der auf Gauck gefallenen Wahl, nicht jedoch hinsichtlich eines dringend notwendigen allgemeinen gesellschaftlichen Nachdenkens über unsere Zeit. In diesem Sinne bietet es genügend Anreize. Etwa auch der Natur, dass wir uns fragen müssen, wie wir künftig leben wollen. In diesem unseren Lande. Ja: In dieser Welt! Albrecht Müller hat das Büchlein nicht geschrieben, um einen Kandidaten, den er nicht für den richtigen Präsidenten hält, noch nachträglich mit Schmutz zu bewerfen. Es ist vielmehr mit ihm sowohl eine fundierte Kritik am “alten Gauck” , als auch ein ernst gemeinter sachlicher Ratgeber für den neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck entstanden und als solcher gedacht. Und so pessimistisch ablehnend, wie manchen der Titel “Der falsche Präsident” womöglich klingen mag, kommt der Text gar nicht daher. Schließlich impliziert der Untertitel auch: Lernt Gauck im und mit dem Amt, so könnten wir durchaus auch glücklich mit ihm werden! Wir Leserinnen und Leser können dieses Büchlein als eine Art Messlatte benutzen, die wir während der Amtszeit dieses Bundespräsidenten an die Ergebnissen von dessen Arbeit anhalten. Joachim Gauck dabei eine Chance zu gebend. Wie heißt es doch so schön: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen! Was wir auch für einen zum Präsidenten bestimmten Ex-Pastoren gelten lassen sollten.

“Freiheit” tönte schon einmal harmonisch im Konzert

Betrachtet man die ersten Amtstage des neuen Bundespräsidenten, so könnte man auf die Idee kommen, Gauck habe bereits in Müllers Buch gelesen. Oder darin lesen lassen? Gewiss: Albrecht Müller würde dies freuen. Ob es denn wirklich so war – indes: wir werden es wohl nie erfahren. Vielleicht aber schleift ja bereits auch das Amt an Gauck. Und Gauck ließ sich schleifen? Zumindest seine Antrittsrede im Deutschen Bundestag machte diesen Anschein. Sie konnte sich hören lassen. Sie war sehr facettenreich. Und der Begriff “Freiheit” tönte diesmal schon einmal im Konzert mit Begriffen wie sozialer Gerechtigkeit, Integration, Lob der 68er und entschlossener Nazi-Kritk- und Ablehnung zusammen. Dies klang schon einmal gar nicht schlecht in den Ohren Vieler. Mindest jedoch harmonisch! Das Pastorale indessen schwang dennoch wieder mit. Zu tief ist es wohl über Lebensjahrzehnte hinweg schon eingeschliffen. Ach schliffe sich doch nun auch, dass von Albrecht Müller Gauck Anempfohlene noch ein. Ich kann Albrecht Müllers Büchlein nur sehr empfehlen. Es wird allen etwas bringen: Ob Gauck-Kritikern, Gauck-In-den-Himmel-Hebern oder einfach nur politisch interessierten Köpfen.

Das Buch: Der falsche Präsident – Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden

Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2012; 63 Seiten, 5,99 Euro

Ein Porträt des Autors Albrecht Müller können Sie hier via NachDenkSeiten/Deutschlandfunk als audio MP3 hören.

Lesen Sie dazu auch einen Text von Mitherausgeber der NachDenkSeiten Wolfgang Lieb.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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