Eine vergoehlerte Diskussion und ein Freitag-Salon, der keiner war

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Zu gestrigen 6. Freitag-Salon fällt mir der Satz ein, den angeblich die Schwestern Martha und Maria unabhängig voneinander wortgleich zu Jesus sagten: "Herr, wärst Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben." (Joh. 11,21 und 11, 32).

Dem Freitag-Salon - oder jedenfalls der auf ihm gepflegten Gesprächskultur - ging es wie Lazarus. Jakob Augstein konnte nicht da sein, entschied zwei Tage vorher, dass nicht zu kommen für ihn und den Freitag wichtiger ist. Seine Blogger verstanden dieses Zeichen und taten es ihm gleich.

Nicht einmal Tessa oder Jan Jasper waren zu sehen.Von der Redaktion kamen außer ein paar Praktikantinnen, die das ganze auf Video aufzeichneten, nur Maike Hank, die die Karten verkaufte, und Chefredakteur Philip Grassmann, der die Moderation übernahm.

Letzteres hätte er vielleicht besser Maike oder einer der Praktikantinnen überlassen. Denn die sonst von JA mit provozierenden Thesen und punktgenau insistierenden Fragen gelenkte Talkrunde lief, wohin sie wollte, und alsbald völlig aus dem Ruder. Der Hauptgast des Abends die Publizistin und Kuratorin Adrienne Goehler moderierte sich selbst und ließ die von Künstlerarmut betroffene Rahel Savodelli außer bei deren Auftritt am Anfang kaum zu Wort kommen und Philip Grassmann genauso wenig - nicht einmal dann, wenn Rahel im zweiten Teil von Fragern aus dem Publikum direkt angesprochen wurde, ließ sie sie oder den vermeintlichen Moderator zu Wort kommen, sondern legte mit einlullender Rhetorik unwiderlegbar fest, wie die jeweils richtige Antwort aussieht oder welche Fragen aus dem Publikum weiterbringen und welche sie nur langweilen.

Manchmal verwechseln Politiker eben Sachdiskussionen in Ideenschmieden mit Wahl- oder Kampfveranstaltungen und wollen "Führungsstärke" beweisen - wer Kanzler(in) werden will, muss abkanzeln können. Der Moderator muss ihnen dann klarmachen, dass nicht am Ende über sie abgestimmt wird. Jakob Augstein mischt an solchen Punkten regelmäßig ein, stellt fest, dass aneinander vorbei geredet wurde und wiederholt sodann die umgangene Frage noch einmal zugespitzt.

Philip Grassmann muss man außer der ihm wahrscheinlich fehlenden Übung zugute halten, dass er zu der gestrigen Moderation kam wie die Jungfrau zum Kind, dass er in nur zwei Tagen die für eine kompetente Gesprächsleitung unabdingbare Vorrecherche nicht schaffen konnte und deshalb kompetentes Intervenieren gar nicht möglich gewesen wäre, zumal es um ein spezielles kulturpolitisches Thema ging: "Geld oder Leben: Wer zahlt für die Kulturarbeit von morgen?"

Hinter dieser Fragestellung verbirgt sich unter anderem die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen wenigstens für Künstlerinnen und Künstler, was uns unsere niederländischen Nachbarn annäherungsweise schon vormachen. Überraschenderweise behauptete Rahel Savoldelli nach ihrer Eingangs-Performance, sie habe bereits ein bedingungsloses künstlerisches Grundeinkommen, nämlich Hartz IV. Ein verhängnisvoller Irrtum. Denn ALG II ist leistungsfeindlich, eben keine Basis, auf der man wie beim Grundeinkommen beliebig dazuverdienen kann, und die letzte ALG II Verordnung aus 2007 macht für Betroffene "Geld oder Leben" zu einer echten Alternative: Wer gesellschaftlich relevante Arbeit leisten will, wird mit Abzügen bestraft, bleibt auf den Spesen sitzen oder muss, wenn er wenigstens sie erstattet bekommt, sie dann als "Einkommen" angeben und abliefern - eine wieder vom Einkommenssteuerrecht abweichende Definition von "Einkommen" im Sozialrecht machts möglich.

Für Kulturpolitiker wie Adrienne Goehler sind solche "Definitionsfragen" aber nur einschläfernd. Sie will nicht noch "die letzte Schweinerei von Hartz IV begreifen", sondern das System insgesamt abschaffen. Aber kann das eine ohne das andere funktionieren?

Wie dem auch sei, die zahlreichen Abwesenden haben an diesem Abend im Grunde nichts versäumt, was hier erwähnenswert wäre. Und wer JA an diesem Wochenende noch mal live erleben möchte, kann das jetzt gleich bei der ARD im Presseclub, wo er in völligem Konstrast zu gestern Abend hoffentlich körperliche und geistige Präsens zeigt.

Mehr zum Thema

findet ihr jetzt auch im Bericht von Redaktionspraktikantin Anna-Lena Krampe mit dem provokanten Titel Kunst als Kondom und JJK hat vorhin (22.03.) einen Tonmitschnitt online gestellt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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