Eine Reise durch das nachrevolutionäre Tunesien

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Was als touristische Rundreise begann, endet inmitten von Barrikaden und Demonstrationen: Tunesien, ein Land verheddert in der Stunde null.

Mit unserem alten VW-Camper fahren wir vier Wochen lang durch Tunesien. Der Anfang unserer Reise, der uns von der Hauptstadt Tunis durch den Westteil des Landes in den Süden führt, lässt sich als normale touristische Rundreise an: Wir besichtigten römische Ausgrabungen und einzigartige Naturschönheiten. Von den freundlichen und so liebenswürdigen tunesischen Menschen werden wir überall herzlich willkommen geheißen. Wir sind die touristische Schwalbe, doch auch wir machen noch keinen Sommer. Abseits der an der Küste gelegenen, auf einen Massentourismus ausgerichteten touristischen Hochburgen sind wir im Landesinnern praktisch die einzigen Touristen. Dies sicher auch mangels touristischer Infrastruktur: Es finden sich nur sehr wenige Hotels und auf der ganzen Reise können wir nur einmal in einem geöffneten Campingplatz nächtigen. So sind wir auf wildes Campen in Olivenhainen und in den Bergen angewiesen.

Unterwegs begegnen wir vielen Menschen, die sich gerne auch auf politische Gespräche einlassen. Auf die Frage nach der aktuellen Situation bekommen wir sehr verschiedene Antworten: Einige sind der Ansicht, es wäre vieles besser geworden, endlich dürfe man ohne Angst vor Repressionen seine Meinung äußern. Dagegen sagen andere, es herrsche das totale Chaos, weder kommunale Verwaltungen noch Müllabfuhr funktionierten und die Zukunft würde fürchterlich werden. Ein weiterer meint, er habe Bedenken, weil jetzt überall Salafisten und Moslembrüder auftauchten und den strengen Islam verbreiten wollten. Dabei tränken doch viele Tunesier am Freitag nach dem Moscheebesuch gerne ein Bierchen. Das passe einfach nicht zusammen. Insgesamt scheint die Freude über den Fall von Ben Ali langsam einer allgemeinen Verunsicherung bezüglich der Zukunft des Landes zu weichen. Für alle mit denen wir sprechen, herrscht immer noch die Stunde null, alles ist im Fluss.

Nach einem Abstecher in die Sahara – hier treffen wir auch auf einige Wüsten-Touristen – wollen wir in die Stadt Gafsa, das Verwaltungszentrum dieser südlichen Region, die vor allem von den Phosphatminen lebt. Wir hoffen, von der dortigen Forstverwaltung eine Erlaubnis für den Besuch des Haddège-Nationalparks zu bekommen.

Barrikadenbau und Streiks
Etwa achtzehn Kilometer vor Gafsa passieren wir das Städtchen El Guetar, wo uns eine Überraschung erwartet: Es sind Barrikaden aus brennenden Autoreifen und umgestürzten Lastkraftwagen errichtet und werden von einer beträchtlichen Anzahl junger Männer verteidigt. Verblüfft bremsen wir ab. Neben uns hält ein Pkw und ein älterer Herr fordert uns freundlich und in deutscher Sprache auf, ihm zu folgen. Er lotst uns durch Nebenstraßen von Wohnvierteln und Zufahrtswegen von Palmhainen durch die Stadt. Auf der Weiterfahrt nach Gafsa bemerken wir, dass nicht nur die Straßen, sondern auch die Schienen blockiert sind: Güterzüge, beladen mit Phosphat für die Verschiffung im Hafen von Skhira, fahren zurück in die Beladebahnhöfe. Phosphat, ein gefragter Grundstoff für die Herstellung von Kunstdünger, wird im großen Maßstab in den nahe gelegenen Bergen bei Metlaoui abgebaut. Hauptabnehmer sind heute der Iran, Indien und China.

In Gafsa angekommen, wollen wir uns bei Mohammed für unsere Rettung mit einer Einladung zum Tee bedanken. Wir fahren in das schicke Hotel Jugurta. Doch dessen Einfahrt ist von einem starken Eisengitter versperrt und ein Panzer ist in Stellung gebracht. Man hat Angst vor Plünderungen. Gäste werden eingelassen und bei Pfefferminztee erfahren wir von Mohammed, dass er ehemals Vizebürgermeister von El Guetar war – bevor das Rathaus geschlossen und bis jetzt nicht wieder eröffnet wurde.

Der Anlass für die heutigen Unruhen seien die hohe Arbeitslosigkeit in der Region und zu wenige Neueinstellungen in den Phosphatminen, klärt uns Mohammed auf. Allein in El Guetar hätten früher 750 Menschen Arbeit im Bergbau gefunden, jetzt seien dort nur noch 120 Arbeiter aus dem Ort in der staatlichen Bergbaugesellschaft beschäftigt. Es käme nicht nur zu Streiks und Barrikadenbau in El Guitar, sondern es hätte heute auch das Gebäude der Polizei und des Finanzamts gebrannt.

Unser Gespräch wird von einem Anruf unterbrochen. Mohammed wird informiert, dass in der Stadt El Guetar den Phosphatminen das benötigte Wasser von Protestierenden abgedreht wurde.

Mohammed erzählt von den Streiks der Phosphatarbeiter, die in den letzten Tagen in Metlaoui stattgefunden haben und von der versuchten Selbstverbrennung eines Mannes und seiner beiden Söhne in der Stadt Sidi Bouzid. Grund dafür war die Ablehnung eines Antrags des Mannes auf Zahlung einer Altersrente durch die tunesische Krankenkasse. Wenigstens ein Familienmitglied müsse ein Einkommen haben, um die Familie ernähren zu können, erklärt uns Mohammed. Dieser Fall wies eine besondere Tragik auf, da der Sohn, der als Wachmann einer Tourismuseinrichtung für das Einkommen zuständig gewesen war, während der Revolution ermordet wurde.

Mohammed sympathisiert sichtlich mit den Aufständischen in El Guetar. Für Ben Ali und dessen Entourage, die das große Geld einsackte, hat er wenig übrig. Er macht eine feine Unterscheidung: Die ehemalige Regierungspartei RCD wäre nicht die Partei des gestürzten Ben Alis gewesen, sondern immer noch die Partei von Habib Bourguiba,des ersten tunesischen Präsidenten nach der Unabhängigkeit.Er ist der Meinung, dass die heute stärkste Partei Ennadha für einen toleranten Islamismus steht und deshalb von vielen Menschen gewählt werde.

Demonstrationen in Tunis
Heute ist der 9. April, ein Feiertag in Tunesien. Es wird der Märtyrer gedacht, die am 9. April 1938 bei einem Einsatz der französischen Kolonialtruppen gegen das protestierende tunesische Volk ihr Leben verloren haben. In Tunis haben Menschenrechtsaktivisten, Studenten, arbeitslose Akademiker, Politiker, Künstler und Bürgerrechtsgruppen zu deren Gedenken zu einer Demonstration auf der Avenue Bourguiba aufgerufen. Die Avenue Bourguiba war Schauplatz vieler Demonstrationen: Hier wurde nicht nur gegen die Kolonialmacht Frankreich protestiert, sondern auch gegen Ben Ali. In den letzten Wochen kam es auf der Avenue zu Zusammenstößen zwischen Künstlern und Salafisten. Letztere hatten am 25. März Todesdrohungen gegen Künstler, Juden und Polikiker - wie dem ehemaligen Premierminister Chaid Essebsi - ausgestoßen und ihre schwarze Fahne gehisst. Am 7. April kam es zu gewaltsamen Übergriffen seitens der Salafisten gegen demonstrierende Arbeitslose. Aus „Gründen der öffentlichen Ordnung“ wurde nun vor einer Woche von der Regierung ein Demonstrationsverbot auf der geschichtsträchtigen Avenue Bourguiba erlassen und auch gegen dieses Verbot richtete sich der Protest der Demonstranten: Das Recht, auf die Straße zu gehen, will man sich nicht mehr nehmen lassen. Doch schon bald nach Beginn der friedlichen Demonstration gehen Fotos und Filme um die Welt, die belegen, mit welch brutaler Gewalt die neuen Machthaber die Demonstranten auseinander treiben. Nicht nur Tränengas und Schlagstöcke kommen zum Einsatz, sondern auch vermummte Sondereinsatzkommandos und mit Pumpguns bewaffnete Zivile gehen gegen die Demonstranten, darunter auch Frauen und Kinder, vor.

An diesen Abend sehen wir beim Campen in einem Wadi unweit von El Guetar über der Stadt schwarze Rauchsäulen stehen. Am nächsten Tag erfahren wir, dass diesmal das Gebäude der Nationalgarde brannte. Geschäfte, Banken, Cafés bleiben heute geschlossen. Weitere Städte schließen sich den Protesten an, es kommt unter anderem zu Unruhen in Hammamet, Sfax und Sidi Bousid. Im Süden Tunesiens wird der Ausnahmezustand verhängt.

Zwei Tage später nimmt der seit Ende Dezember amtierende Innenminister Ali Larayedh das Demonstrationsverbot entlang der Avenue Bourguiba zurück. Ein klarer Sieg für die Demonstranten. Ali Larayedh, der heute der Ennahda-Partei angehört, wurde unter Ben Ali von einem Militärgericht zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, die er zum Teil in Einzelhaft absitzen musste. Umso mehr stößt sein Vorgehen auf Seiten der Protestierenden auf Unverständnis.

Am 1. Mai wird es wieder Demonstrationen auf der Avenue Bourguiba geben. Die Gewerkschaft fordert die Lohnerhöhungen ein, die ihr auch von der jetzigen Regierung versprochen wurden.

Wenig Hoffnung auf Besserung
Während sich die Parteien verbissen darüber streiten, ob ein reformerischer politischer Weg mit Einbeziehung der alten Kräfte der RCD-Partei oder ein radikal-revolutionärer Weg eingeschlagen werden soll (wobei sich diese Grabenkämpfe durch fast alle Parteien ziehen) und der Entwurf einer neuen Verfassung immer länger auf sich warten lässt, verschlechtert sich zusehends die soziale und wirtschaftliche Lage in Tunesien. Die Haupteinnahmequelle des Landes sind Überweisungen von Arbeitsemigranten aus dem Ausland. Aufgrund des Bürgerkriegs in Libyen und der schlechten wirtschaftlichen Lage in Europa ist dieser Geldtransfer stark zurückgegangen und zurückkehrende Emigranten treiben die Zahl der Arbeitslosen weiter in die Höhe. Den zweiten finanziellen Eckpfeiler des Landes bildet der Tourismus. Doch die Touristen haben Angst: Die Buchungen sind laut Auswärtigem Amt bis zur Mitte des Jahres 2011 um sechzigProzent eingebrochen. Das bekommen nicht nur die großen Hotelanlagen zu spüren, sondern auch die vielen Kleinhändler, die ihre Souvenirs nicht mehr an den Mann bringen.

Daneben ist die Administration verwirrt und verunsichert. Keiner weiß, wie die neuen Gesetze aussehen werden, ob die alten noch gelten und ob man überhaupt seinen Arbeitsplatz behalten wird oder gehen muss, weil man zur alten RCD-Partei gehörte oder nicht bei der neuen Ennahda-Partei ist. Was ist richtig, was ist falsch? In der Regel folgen die Angestellten dem Grundsatz: Ruhighalten und abwarten. Es werden keine Bewilligungen mehr ausgestellt, keine Entscheidungen getroffen. Das Rechtssystem ist paralysiert. Reformen ruhen, die Korruption steigt, Müllberge wachsen und man fragt sich, wie dieser Staat überhaupt noch funktionieren kann. Die gesellschaftlichen Probleme, die zur Revolution führten, wie die hohe Arbeitslosikgkeit und der Mangel an sozialer Gerechtigkeit, werden nicht gelöst. Auch den Sicherheitskräften ist jeder Maßstab für ein Eingreifen zum Beispiel bei Demonstrationen, Straßenblockaden und Streiks abhanden gekommen und so tun sie entweder gar nichts oder reagieren mit blinder Gewalt.

Schwierige Grenzen
Daneben bestehen die Probleme mit den Nachbarn Libyen und Algerien. Zum bürgerkriegserschütterten Libyen sind die Grenzen mal offen, mal geschlossen, je nachdem, wer dort gerade die Oberhand hat. Die Landwirtschaft ist in Libyen zum Erliegen gekommen, deshalb werden landwirtschaftliche Produkte im großen Maßstab aus Tunesien importiert, das heißt zum Großteil nach Libyen geschmuggelt. Dies führt zu einer Verknappung im eigenen Land, was wiederum die Preise für Obst, Gemüse und Fleisch in die Höhe treibt. In Algerien ist der Präsident Bouteflika auf den „arabischen Frühling“ sowieso nicht gut zu sprechen und hat sich gerade in einer Ansprache gegen die aus dem Ausland importierte Demokratie ausgesprochen und seine Zweifel an den Entwicklungen in der Region unter dem Deckmantel von Demokratie und Menschenrechten geäußert.

Salafisten, Ennahda und Präsidentschaftswahlen
Sorge bereitet vielen Tunesiern das Erstarken der Muslimbrüder und der Aufmarsch der Salafisten, die zunehmend das Stadtbild von Tunis mitbestimmen. Dazu gehört eine Zunahme von Gewalt und Terror gegen Oppositionelle und Andersdenkende, die gewaltsame Vertreibung von Prostituierten aus der Medina, die Morddrohungen gegen Juden, das Erscheinen von Frauen in Burkas und von Männern mit langen Bärten sowie Freitagsgebete auf den Hauptstraßen der Stadt.

Man sollte nicht vergessen, dass das alte Tunesien neben dem Mangel an Demokratie, Pressefreiheit und Achtung der Menschenrechte durchaus auch positive Errungenschaften vorweisen konnte wie zum Beispiel die Gleichstellung der Frau im Familienrecht (mit Ausnahme des Erbrechts), den stetigen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in den letzten Jahrzehnten, eine einigermaßen funktionierende Krankenversorgung, das Senken des Bevölkerungswachstum dank Familienplanungsprogrammen auf um die zwei Prozent und die Steigerung der Lebenserwartung auf fast 74 Jahre. Wird eine neue Regierung es schaffen, wenigstens diese Standards zu halten?

Ende dieses Jahres sollen Präsidentschaftswahlen stattfinden. Es ist zu erwarten, dass ein Kandidat der Ennahda-Partei die Wahlen gewinnt. Noch immer ist nicht ganz klar, welche Ausrichtung diese Partei tatsächlich hat. Der Einfluss Katars und Saudi Arabiens, die als verlängerter Arm der USA die Ennahda massiv nicht nur mit Geldern unterstützen, ist unbestreitbar. Es ist nicht auszuschließen, dass ein von konservativem Islamismus geprägter Staat entsteht, der sich problemlos mit der die neoliberale Keule schwingenden EU, Weltbank und IFW arrangiert und dessen Schwerpunkte sicherlich nicht soziale Gerechtigkeit und Gleichstellung der Frau sind. Aufhorchen lässt auch die Nachricht, dass Tunesien gerade mit Frankreich einen Vertrag geschlossen hat, der zum milliardenschweren Kauf eines AKWs führen soll.

Verheddert in der Stunde null
Am Ende unseres vierwöchigen Tunesienaufenthalts stellen wir überrascht fest, wie plötzlich diese als touristische Fahrt begonnene Reise gekippt ist in eine Reise durch die politischen Realitäten eines Landes, das sich immer mehr in seiner Stunde null zu verheddern scheint und dessen zukünftiger Weg sich noch nicht wirklich abzeichnet, sondern in dem immer mehr gewaltsame Auseinandersetzungen den politischen Diskurs bestimmen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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