Zu viel Trauma, zu wenig Musik

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Der auf der Berlinale erstmals gezeigte Spielfilm „Sex & Drugs & Rock‘n‘Roll“ erzählt vom Leben des verstorbenen Rock-Sängers Ian Dury, verbeisst sich aber so tief in die These vom ewig grollenden Krüppel, dass er dem Musiker und der Musik seiner Band „Blockheads“ am Ende zu wenig gerecht wird. Schade.

„Steh auf! Du musst von alleine hochkommen und auf deinen eigenen Beinen stehen. Immer!“ Mit dem entschlossenen Blick des ehemaligen Boxers fixiert der bullige Vater seinen zierlichen Sohn, der im Sand liegend und Hilfe erbittend die Hand nach ihm ausstreckt – vergeblich. Eine bittere Lektion für den vielleicht Zehnjährigen: kann er mit seinem kindergelähmten und von einem Schienengestell gestützten Bein ohnehin kaum ohne Krücke stehen, schon gar nicht im Sand – und erst recht nicht boxen. Doch was herzlos aussieht, ist gut gemeint, der gestrenge Vater will seinen Filius auf diese Weise stark machen, ihm den Willen antrainieren, sich trotz der offensichtlichen Behinderung niemals schwach oder gar hilflos fühlen zu müssen.

Zumindest das hat, so will es der Film glaubhaft machen, bei Ian Dury gut funktioniert. Denn viel später, als international erfolgreicher und berühmter Musiker, sind ihm Rücksicht auf ihn oder gar Mitleid mit ihm zuwider, und auch Zurechtweisungen kann sein scheinbar stahlkaltes Ego schwer ertragen. Da brennt ihm schon mal die Sicherung durch, wenn ein Produzent ihn in Sachen Gesang belehren will; der Streit eskaliert dann kurzerhand zu einer Punk-gerechten Zertrümmerung des Studio-Equipments. Das ist dann wohl der „Rock‘n‘Roll“, den Dury mit seinem ersten großen Hit besang, dessen Titel „Sex & Drugs & Rock‘n‘Roll“ zu einem geflügelten Wort für die Musik- und Jugendkultur und ihre obligaten Ausschweifungen wurde. Und nun auch zu einem genau so betitelten Spielfilm.

Es ist ein biografischer Spielfilm über den im Jahr 2000 an Krebs verstorbenen Ian Dury. Mit seiner Band „The Blockheads“ war er ab Ende der 1970er für einige Jahre Dauergast in den Charts („Wake up and make Love with me“, „Hit me with your Rhtyhm Stick“, „Reasons to be cheerful, Part 3“ u.a.), mit Tourneen in England, Europa und den USA räumten sie ordentlich ab. Und dass weder trotz der Behinderung Dury‘s noch gerade deswegen. An sich spielte die Verkrüppelung für die Band und deren Musik eine geringe Rolle. Dury‘s von Pub-Lyrik, und Sprach-Witz, rhythmischer Phonetik und Skurrilität geprägte Texte zum Einen und die groovenden, tanzbaren und stets um ein ins Ohr gehendes Riff bemühenden Tracks zum Anderen (geschrieben von „Blockhead“ Chaz Jankel, von dem praktisch alle Hits und auch die meisten Songs stammen), standen gut für sich allein, auf ihren eigenen Beinen, wenn man so will.

Trotzdem thematisiert der Debüt-Spielfilm des Briten Mat Whitecross die Verkrüppelung Dury‘s so sehr, dass dem Zuschauer am Ende ein sichtlich eng gefasstes und leider zu kurz greifendes Bild dieses Musikers und seiner Band im Kopf bleibt. Als wäre die anfangs erwähnte Schlüsselszene nicht schon deutlich genug, blendet der Film immer und immer wieder in die Kinderzeit des Künstlers. Die verbringt der in einer Art Behinderten-Internat und muss dort ähnliche und schlimmere Erniedrigungen wie die seines Vaters ertragen. Auch das Trauma des Swimming-Pools – Dury infizierte sich durch Schlucken unreinen Badewassers mit Polio, was zu den Lähmungen führte – taucht immer wieder auf, zumal sich sein Sohn Baxter vor dem Sprung ins kalte Wasser fürchtet.

Der Bildmix aus Erinnerungen und Reflexionen markiert einige, jedenfalls vom Drehbuch gesetzte Knotenpunkte in Dury‘s Leben, die sich jedoch allein auf Trennung und Wiederfindung reduzieren: mal von seiner Ehefrau, dann von seiner Freundin, von Musikern, mit der Freundin und wieder von der Freundin. Stets lässt sich der Film-Dury – vom brillant spielenden Hauptdarsteller Andy Serkis absolut überzeugend verkörpert – vom Credo der Eigenständigkeit leiten, will auf niemanden angewiesen sein, auch nicht auf die Liebe anderer. Ein Missverständnis, natürlich, auch das erzählt der Film am Ende, doch das ist eben leider auch fast das Einzige, was er uns wirklich erzählt: von der vermeintlich lebensbestimmenden Malaise dieses Künstlers.

Über den Musiker Dury erfahren wir zu wenig. „Fuck the Sex Pistols“ raunt er das Radio an, weil er meinte, viel eher viel punkiger gewesen zu sein, doch das bleibt das einzige kleine Morsezeichen in Sachen Musik-Alltag. Wie enttäuschend. Waren doch die späten 70er Dury-Jahre ebenso umwälzend wie aufregend, gerade in England. Punk und New Wave, Ska und Pop, es wirbelte in den Charts, Dynamik lag in der Luft. Ian Dury und seine Blockheads waren von Beginn an sehr erdig – sie starteten als grölige Pub-Band – und doch immer ein bisschen tanzbodiger, verführerischer, glatter. Den Punk markierte allein der Sänger Dury mit seinen schrillen Outfits, seinem Cockney-Sprech und seiner Exzentrik – Spastiker hin, Krücke her. Die Bassläufe der Songs waren oft Disco-Funk, das Schlagzeug purer Rhythm‘n‘Blues, die Gitarre oft rockig, aber nicht rotzig. Dazu der mal versoffen, mal hysterisch, mal zärtlich greinende, grunzende, brüllende und dann wieder irr säuselnde Rezitier-Gesang von Ian Dury. Das alles war schon eine sehr spezielle Melange. Punk war es nicht, Rock‘n‘Roll auch nicht, allenfalls von der Attitüde her. Doch gerade deshalb ist ja die Frage, woher die „Klotzköpfe“ ihre Inspirationen nahmen, was ihre Einflüsse waren? Und wie kamen sie nach der Akzeptanz im eigenen Land mit den Erfolgen in den USA zurecht?

All das lässt der an sich gut gemachte Film leider komplett aus, Band und Musik und Musikerdasein inszeniert er kaum, und wenn, dann völlig losgelöst von der Aussenwelt. Auch dass Ian Dury Kunstpädagogik studierte und darin so lange arbeitete, bis ihn – angeblich – der Tod von Gene Vincent auf die Bühne trieb, enthält uns der Film vor. Er präsentiert uns Dury allein als vom Groll getriebene, zähe, mitunter stinkstiefelige Rampensau, als engstirnigen Egozentriker, der Zeit seines Lebens hadert – nicht mit der eigenen Behinderung, sondern mit der inneren Kälte und Verbohrtheit, die ihm als Willens-Stärke und Überlebensmotto eingebläut wurde. Folgerichtig baut der Film Dury‘s selbstironischen Krüppel-Song „Spasticus Authisticus“ als zentrale Schlüssel-Botschaft auf. Dass sich Dury im Film der Vereinnahmung dieses Songs und seines Ruhms durch die britische Spastiker-Vereinigung auf theatralische Weise entzieht, erscheint vom Drehbuch her betrachtet logisch. In Wirklichkeit war Dury während der 90er Jahre lange Zeit als UNESCO-Beauftragter für Behinderte tätig, und zwar weit uneigennütziger und zurückhaltender, als es dass filmische Psychogramm nahelegt. Da schrieb er – fast zurückgezogen – an einem Musical („Apples“) und schauspielerte in Filmen.

Im Film über ihn, der vom Stil her durch teilweise oberhektischen Schnitt und grafische Bild-Spielereien im Stil der 70er auffällt, kommt „Spasticus Authisticus“ einer hymnischen Selbstbefreiung gleich, inspiriert durch den Kubrick-Film „Spartacus“, was ja auch phonetisch verwandt klingt. So gesehen hat der Film mit „Sex & Drugs & Rock‘n‘Roll“ auch den falschen Titel. Zwar zelebriert der Film-Dury mit seiner Nach-Ehe-Freundin seinen Spaß an wildem Sex, zwar wird bei Musikers gerne gesoffen und gekifft und mit Pillen experimentiert, zwar gibt es Prügeleien mitten auf der Bühne – doch bei Lichte betrachtet erscheinen diese Szenen eher wie die Einlösung des Titel-Versprechens, denn als Lebensfaden. Womöglich wäre „Spasticus Authetisticus“ der treffendere Titel, was die Erzählung des Films betrifft. Doch das mögen Produzenten und Vermarktungs-Experten gewiss anders sehen, weil sich „Sex & Drugs & Rock‘n‘Roll“ vermutlich nicht nur besser sondern auch besser verkäuflich anhört, dazu braucht man sich nur den Trailer zum Film ansehen.

Am Ende verspielt der Film erstens viele Chancen, hinter Ian Dury nicht nur den Krüppel sondern vor allem den Performer, den Texter, den Künstler, den Musiker, vielleicht sogar den Kunsterzieher zu entdecken. Neben seiner Prägung durch die Polio-Lähmung war er gewiss weit mehr auch durch seine Zugehörigkeit zum legendären Label „Stiff Records“ (Madness, Elvis Costello und andere) und zur britischen Pop-Szene dieser Jahre beeinflusst – und vice versa. Leider verheizt der rundum gut besetzte Film zweitens die meisterliche Schauspielkunst des Andy Serkis, er hätte gewiss auch mehr Tiefen und Breiten des Characters Ian Dury anzubieten gehabt. Schliesslich wuchs Serkis über Monate mit den Texten, der Bühnenpräsenz, der Musik und nicht zuletzt mit der Band selbst regelrecht zusammen – wofür er im übrigen viel mit den originalen Blockheads arbeitete. [Aktualisierung: Nach Ansicht einer B.Z.-Journalistin, die bei einer Berlinale-Fragerunde anwesend war, war die Arbeit am Film gar nicht so intensiv und legten Regisseur und Schauspieler herablassendes Desinteresse an ihrem eigenen Filmthema an den Tag: Sex, Drugs, Punk + Dury = Bilderbrei! Das würde manches erklären.]

Die Blockheads waren also ins Projekt involviert und sind zudem seit mehreren Jahren aktiv mit der musikalischen Fortführung von Dury‘s „Werk“ beschäftigt, gehen auf Tour und nehmen Alben auf, zuletzt 2009, „Staring Down The Barrel“. Selbiges klingt durchaus ordentlich, ganz „im Geist“ der guten, alten Hits-Zeiten und irgendwie doch frisch. Diese musikalische und „Nachlass“-verwalterische Vitalität gibt Anlass zur Hoffnung, bei den Auftritten der „Blockheads“ mehr über ihre Musik und ihren verstorbenen Frontman zu erfahren oder auch zu erspüren, als es dem Film gelingt. „Spasticus Authisticus“ darf dann gerne dabei sein, als eine der vielen Hits und eine der vielen Facetten des Ian Dury.

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Geschrieben von

hest

Journalist, Autor, Referent, Lehrkraft, Freischreiber. Wanderer & Wunderer in Sachen Medienkultur

hest

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