Wo blieb der Zorn? Freitag-Salon mit Oskar Negt

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Ach, wie hieß der bloß, der hochgelehrte, hochoriginelle Mensch, der im berüchtigten Tabakskollegium von Preußens „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. vorlas und manchmal durchaus aufrührerische Reden hielt? Ich grübelte darüber, als ich heute auf dem Weg zum Einkauf über den gestrigen Freitags Salon mit Oskar Negt nachdachte und durch die Grumbkowstraße lief. Nee, aber der hieß nicht Grumbkow, der Narr.

Oskar Negt selbst hatte ironisch die beratende Tätigkeit, die er einmal am „Hofe“ Gerhard Schröders wahrnahm mit einem Hofnarren verglichen. Ich weiß noch, dass dieser Narr, dessen Name mir nicht einfällt, dreimal versuchte zu fliehen, den groben Scherzen und den Streichen, die man ihm spielte zu entgehen, aber man fing ihn immer wieder ein. Oskar Negt berät nicht mehr. Aber sein Wort ist nach wie vor gefragt und sein Rat wird gesucht, sogar von Vermessungsingenieuren.

Nur: Zum Thema Zorn – das Jakob Augstein im Sinne lag - hatte er nichts anderes oder auch nicht mehr beizutragen als die Analyse – die Stärkung der politischen Urteilskraft - und den Verweis auf die Tatsache, dass den verheerenden „großen Würfen“ der Vergangenheit auf der Suche nach dem Menschheitsfortschritt jetzt die kleinen Schritte folgen müssten.

Er warnte durchaus, er stellte fest, dass die Menschen immer mehr aus allen Bindungen gerissen werden, sprach, vom Totalisieren der Betriebswirtschaftlehre unddavon, dass die Menschen – entfernt von ihren Wurzeln -reine Anhängsel des Marktes werden.

Neoliberalismus

ohne feste Tradition

Andererseits sprach Jakob Augstein im Disput einmal an, dass auch der so lange propagierte Neoliberalismus etwas in den Menschen anspricht, die den totalen Freiheitsgewinn wie eine Verheißung betrachteten. Dem entgegnete Negt, dass dieser Neoliberalismus eigentlich inkeiner wirklich gefestigten Tradition stehe. Aber die Totalisierung der Individualisierungsschübe, die Totalisierung des reinen Selbst seien aus seiner Sicht eine wirkliche Gefahr: „Wer das Gemeinwesen beschädigt, beschädigt sich selbst“, so seine Warnung. Und die Konservativen- die sich dieser Entwurzelung vielleicht noch bewahrend entgegenstellen könnten, sind aus Negts Sicht „eigentlich keine wirklichen Demokraten.“Sind das nicht Sätze, mit denen man „bei Hofe „ nicht so gut ankömmt? Ist er wegen solcher Ketzereien der Tafel Schröders ferngeblieben? Er wollte nicht darauf antworten und schon in dem verkürzten Hinweis lag ein Unbehagen.

Ökonomie wie

ein Naturgesetz

Herrlich noch ein wahres Wort: „Wenn Ökonomie wie ein Naturgesetz behandelt wird, dann schwindet die Neigung, wirklich Alternativen zu suchen, zu entwickeln und zu fordern“. Wenn man nicht glaubt, dass Systeme von Menschen gemacht werden, dann werden sie auch von Menschen nicht mehr verändert. Mich erinnerte das ein bisschen an den Vulgärmarxismus mit seinem Gesetzmäßigkeitswahn.

Die Warnung vor den politischen Schwarzmarkttheorien a la Sarrazin war auch sehr eindeutig: „Sarrazin ist genial in der Behandlung von Vorurteilen.“

Die Wurzel ist

immer der Mensch

Jakob Augstein wollte auf die agierenden politischen Kräfte kommen, auf die Parteien, aber Negt ging vor allem auf die LINKE ein, von der er sich wünschte, sie ginge wieder in den verloren gegangenen Flügel der SPD ein. Er verteidigte die Suche und die Rückbesinnung auf soziale Bewegungen, auch auf solche, die diskreditiert sind. Sie könnten ja durchaus auch neue zukunftsfähige Überlegungen gerieren. Aber, so Negts kategorische Feststellung: Die Wurzel ist immer der Mensch. Dies ist die Lehre aus der Vergangenheit, die immer meinte, der Mensch ändere sich von allein., wenn die Verhältnisse geändert seien

Disput aus einem

Missverständnis

Jakob Augstein erinnerte bei der Gelegenheit noch mal daran, dass der Sozialismus ja auch nicht das Wahre gewesen sei. Und Negt erwiderte, die „andere Seite“ auch nicht. Überhaupt sei der Sozialismus kein politisches Projekt sondern eine Perspektive.

Daran entzündete sich in der anschließenden Debatte ein Streit, der – wie mir schien - auf einem Missverständnis beruhte. Eine junge Dame, Studentin und ein bisschen sendungsbewusst – von der Birthler Behörde kommend – warnte vor Geschichtsrelativierung, wenn Negt die Opfer des Sozialismus gegen andere Opfer aufrechne. Sie meinte wohl die NS-Herrschaft, Negt hatte mit seinem Satz den Kapitalismus gemeint. Er erklärte darum, er verstehe die Frage nicht und sprach von einem rhetorisch so hingesagten Satz. Die junge Dame aber fühlte sich davon gekränkt und nicht ernst genommen. Sie war zornig, aber sonst...

Sehr bedenklich fand ich am Ende, dass die Frage nach der Gegenöffentlichkeit in diesen Zeiten so absolut pessimistisch beantwortet wurde. Dass sich diese Gegenöffentlichkeit inzwischen im Internet durchaus artikuliert, organisiert und Widerstand entwickelt – kein Wort davon. Das fand ich als Community-Mitglied ärgerlich und erstaunlich.

Jetzt fällt’s mir wieder ein:

Gundling hieß der Narr

Ich zitiere aus mir freundlich zur Verfügung gestellten Materialien, in denen es über das Tabakskollegium heißt: „Die erörterten Fragen waren nicht zuletzt politische, staatswichtige, schließlich saßen die wichtigsten Entscheider ja an einem Tisch zusammen. Für das Vergnügen war ebenfalls gesorgt: Sogenannte „lustige Räte“, von Friedrich Wilhelm I. ernannt und ins Tabakkollegium berufen, sollten für anspruchsvolle Unterhaltung sorgen. Die wohl schillerndste Figur unter diesen Räten ist Jacob Paul Freiherr von Gundling (1673-1731), Universalgelehrter und Inhaber zahlreicher Titel, Verfasser ebenso zahlreicher Schriften zur brandenburgisch-preußischen Geschichte, darunter auch geografische Beschreibungen sowie mehrere Biographien brandenburgischer Kurfürsten.

In den Anmerkungen wird angeführt, dass im „kulturellen Horizont einer in die Modernisierungskrise geratenen Hofkultur jener Zeit Narrentum und Gelehrsamkeit nicht die sich wechselseitig ausschließenden Gegensätze darstellten, als die sie aus heutiger Perspektive gesehen werden. (Danke Amanda)

Es scheint, die in die Modernisierungskrise geratene politische Kultur hierzulande könnte wirklich weise Leute, wie Oskar Negt mit dem Talent zur klugen Narrheit und hellsichtigen Scherzen durchaus gut gebrauchen. Aber, ein bisschen mehr Zorn wäre gut gewesen.

Gesellschaftsnachrichten

Gesichtet wurden: „Amanda“, „chrislow“, „Ich“, Michael Angele, „ChristianBerlin“ und seine Frau. Mit ihnen und Jutta Zeise vom Freitag, die ich bisher nur durch Mailkontakte kenne gab es ein gutes langes Gespräch. Heimgefahren bin ich – fast schon traditionell – mit Christian und Gattin. Das war nett, denn es war – wie immer – auf einmal so spät geworden. Ich musste außerdem feststellen, dass ich keinen Alkohol mehr vertrage.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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