Unser Kolumnist betritt an einem Samstagabend das Freilichtmuseum seiner Jugend.
Samstag, 16. Juli, Marktplatz Uedem
Mit jeder Sehne meines Körpers bin ich zum Rock’n’Roll entschlossen. Mit jeder Lunge. Jeder Herzkammer. Mit jedem Knochen, jeder Haarspitze, jedem Zehnnagel. Mit jedem Tropfen Blut. Ich bin aus Rock’n’Roll gebaut. Bei Facebook habe ich der Band geschrieben, die ich mir gleich ansehe, dass sie die Bühne in Schutt und Asche legen soll.
Ich setze mir die Kopfhörer auf, drücke auf Start und gehe los. Unterwegs sehe ich das Wort „Magnetfeldtherapie“ auf einem Schild. Ich sehe weibliche Teenager, deren enge Hosen nach oben wie vollgestopfte Schultüten auseinandergehen. Ich sehe Jugendliche an der Kirche stehen. Als ich selbst noch ein Jugendlicher war, hatte ich immer Angst vor Jugendlichen, nun hasse ich sie. Das ist besser. Es regnet unstetig, das aber entschlossen.
Ich stehe auf dem Markplatz. Auf dem Marktplatz stehen auch: Vier Bierstände, ein Imbissstand, ein Matjesstand, ein Pommesstand, Tische und Bänke, eine Bühne, dahinter ein LKW-Anhänger, der an einer Seite offen ist und auf dem ein DJ Musik auflegt, Menschen. Viele von ihnen sind Vorgartenbesitzer. Darüber spannen sich zwei olivgrüne Riesenfallschirme gegen den Regen. Um den Marktplatz herum stehen: Ein Popcornstand, ein Biermarkenstand, ein Verlosungsstand. Ein Kind läuft mit einer Flasche Sekt und einem eingeschweißten Stück Fleisch an mir vorbei.
Das Brunnenfest in der niederrheinischen 8000-Menschen-4000-Kühe-1000-Pferde-Gemeinde Uedem ist in diesem Jahr zum zwanzigsten Mal. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es sich durch nichts auszeichnet. Ein Bierwagen ist kein Alleinstellungsmerkmal. Ich muss das wissen, ich bin hier 19 Jahre lang aufgewachsen, bis mich die Universitätslosigkeit der Gemeinde zwang, in eine Stadt mit Straßenbahnen zu ziehen. Ich könnte hier blind laufen, weil sich nicht mal die Lage der Hundehaufen verändert. Aber der Juwelier hat vor Jahren geschlossen und wo früher Edeka war, ist heute Kik.
Der DJ sagt die Band an. Weil der Fallschirm alles abdeckt, nur nicht die Bühne, haben die Bandmitglieder ihre Instrumente auf dem Anhänger dahinter aufgebaut. Der Sänger ist ein Bekannter, sein Bruder war der Torwart in meinem Team. Die Band spielt Rockmusik aus der Phase der frühen Tocotronic. Ein Typ, den ich kenne, läuft ständig auf die Bühne zum Mischpult, um an ein paar Knöpfen herumzudrehen. Das Mischpult haben sie selbst mitgebracht, der Veranstalter, der hiesige Werbering, hatte keines vorgesehen. Zwischen der Band und dem Publikum sind mehr als diese fünfzehn Meter, bestehend aus Bühne und dem Raum vor der Bühne. Dazwischen sind auch die Musik, die codierten Zeilen des Sängers, 20 bis 40 Jahre und Qualität der Schulabschlüsse.
Am Anfang klatschen die Leute noch, dann wenden sie sich wieder Bier und Freunden zu. Niemand bewegt sich. Bis auf einen jungen Typen mit Glatze und schwarzer Kunststoffjacke, der seine Mutter/Tante/Freundin herumschleudert, die mich an die Crystal-Meth-Opfer im amerikanischen Fernsehen erinnert. Sie tanzen unabhängig vom Rhythmus, den die Band vorgibt. Vor der Bühne stehen siebenjährige Mädchen und machen Spagat oder essen Popcorn.
Ich stehe fünf Meter dahinter und trage Betonschuhe. An dem Anhänger hat jemand Werbebanner befestigt. Von einem der beiden Autohäuser und von der Abfallberatung. Was macht eigentlich so eine Abfallberatung?
„Guten Tag, ich habe leere Joghurtbecher und einen alten Apfel.“
„Joghurtbecher in die gelbe Tonne, Apfel in die braune.“
„Danke. Gut, dass es die Abfallberatung gibt.“
Auf dem Banner guckt ein Maulwurf aus dem nach ihm benannten Hügel. Ich verstehe den Zusammenhang zur Abfallberatung nicht.
Als letztes Lied spielt die Band einen Coversong, in dem mehrfach die Zeile auftaucht „Das schlimmste ist, wenn das Bier alle ist“. Am Ende des Songs stellt ihnen jemand Bier in Plastikbechern auf die Bühne. Es ist der Vater des Bassisten. Ich kenne ihn, weil es schwer ist, hier jemanden nicht zu kennen.
Die Frau, die eine Viertelstunde später auf die Bühne steigt, ist Uedems berühmtester Popstar. Sie trägt ein schwarzes Paillettenkleid, eine schwarze Strumpfhose und Pumps. Sie ist irgendwas zwischen 50 und 65 Jahren. Sie besitzt hier ein Nagelstudio. In der Lokalzeitung steht immer die Geschichte, dass sie vor der Königin von Jordanien gesungen hat. Jordanien liegt ihr im Grunde zu Füßen. Ich möchte an dieser Stelle nur kurz zwei kritische Fragen stellen:
1. Wie viel Ahnung von Musik hat die Königin von Jordanien?
2. Wenn sie so ein internationaler Star ist, warum betreibt sie dann ein Nagelstudio in Uedem?
Ist es Überzeugung („Nägel sind meine Leidenschaft“) oder Notwendigkeit?
Sie führt durch einen bunten Blumenstrauß an Schlagercovern. „Du hast mich tausendmal belogen, du hast mich tausendmal verletzt… und jetzt alle!“ Andrea Berg, Celine Dion, Gloria Gaynor, Tina Turner. Zwischendurch bedankt sie sich bei ihren Kunden, ohne die sie heute nicht hier stehen würde, und sie sagt, alle sollen Lose kaufen wegen des Autos, das sie gewinnen könnten, und dann führt sie eine Polonäse an, von der ich befürchte, dass sie direkt in ihr Nagelstudio führt. Die Leute aber, die sind in Stimmung, weil der Popstar sie dort abholt, wo sie stehen. Sie steht ja selbst dort. Dann geht es wieder zurück auf die Bühne.
Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und jetzt alle! Und dann hebe ich meine Hände in die Höhe und bewege sie von links nach rechts. Schlimmer als mitmachen ist nur noch nicht mitmachen.
Als ich nach Mitternacht durch den Regen zurück in mein altes Kinderzimmer laufe, stehen da plötzlich zwei Hunde neben mir auf dem Gehweg, ein kleiner und ein großer. Ich habe vor beiden Angst, weil ich vor allen freilaufenden Hunden Angst habe. Ich sehe sie an, sie sehen mich an, dann gehe ich schnell weiter. Mir kommt ein Paar unterm Regenschirm entgegen. Bestimmt die Besitzer. Ich will sie anbrüllen, dass sie ihre Hunde nicht frei herumlaufen lassen sollen. Was ihnen denn einfalle? Ich will sie mit ihrem Regenschirm durchs Dorf jagen. Aber dann gehe ich bloß an ihnen vorbei.