BRD 21: Die verKohlte Republik. Eine Polemik 1

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Die „Love“ Parade in Duisburg ist wieder in den Nachrichten. Und mit ihr die nicht mehr fassbare Tatsache, dass der politisch Verantwortliche CDU-Oberbürgermeister noch nicht einmal daran denkt, endlich die einstmals selbstverständlichen Konsequenzen zu ziehen. Kein Funken von Anstand, Moral, Charakter. Seine eher unanständige „Entschuldigung“ nach einem Jahr verstärkt dies eher noch. Und seine Partei verhinderte seine Abwahl (1).

Man mag sich da an die vom Blatt abgelesene „Entschuldigung“ des Herrn Mappus nach dem Schwarzen Donnerstag erinnert fühlen, der im Vergleich zu Duisburg ein leuchtend heller Tag war: "die Bilder von gestern dürfen sich nicht wiederholen". Die „Bilder“, wohlgemerkt (2).

Mappus wurde abgewählt. Immerhin. Trotz des Wahlunrechts. Aber bundesweit sind wir schon einen Schritt weiter. Schwarz-Gelb hat es nicht für nötig befunden, das geltende, aber verfassungswidrige Wahlrecht fristgerecht verfassungskonform zu ändern: „Sollte das Wahlrecht nicht bis zum 30. Juni geändert werden, hätten vorgezogene Neuwahlen keine verfassungskonforme rechtliche Grundlage mehr. Der Grünen-Politiker Jerzy Montag sagte daher: „Ab dem 1. Juli haben wir - und das ist keine Übertreibung - eine echte Staatskrise“.(3)

Und die haben wir nun. Schluss mit diesem nervigen Grundgesetz und diesem lästigen Verfassungsgericht. Wer will Schwarz-Gelb schon dafür bestrafen? Das Volk? Lächerlich. Kann es doch gar nicht. Solange es kein verfassungsgemäßes Wahlrecht gibt, kann jedes Wahlergebnis angefochten werden und die alte Regierung bleibt im Amt - und hat zur Not die Kommandogewalt über die Bundeswehr. Alles paletti also – für Merkel & Co. Und überhaupt: regt sich denn irgendjemand darüber auf? Laufen die Medien Sturm? Aber nein. Wahlrecht. Verfassung. Wen interessiert denn so was? Jetzt ist Sommermärchen. Und nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft erst recht. Punkt (4)

"Betrüger sind auffallend oft Politiker" lautet passend dazu eine aktuelle Schlagzeile bei WELT Online, die sich allerdings auf den anschwellenden Strom von betrügerisch erworbenen Doktortiteln bezieht (5).

Und ein „Quadriga-Preis“ wird dem „lupenreinen Demokraten“ Putin angeschleimt. Im Kuratorium sitzen solche politischen Schwergewichte wie Herr Ramsauer und Herr Mißfelder. Herr Özdemir hat in letzter Minute die Flucht ergriffen....Und ansonsten will es offenbar keiner gewesen sein (6).

Und mit Brigitte Dahlbenders wohl korrekter Feststellung: "Die Bahn belügt die Bevölkerung", schließt sich schließlich bei Stuttgart 21 – dem vermutlich größten Skandal der BRD seit dem Krieg – dieser Kreis der Verkommenheit. Wenn man, wie ich in den vergangenen Tagen, den Argumenten und Fakten der kritischen Experten zugehört hat, kann man zu keinem anderen Ergebnis in dieser Sache mehr kommen (7).

Was ist mit dieser Republik passiert? Und wann ist es passiert? Ich meine, es war die Ära Kohl – auch er, bzw. seine ehemalige Familie, gerade mal wieder im Focus, äh SPIEGEL (8). Ein Teil des Bildungsbürgertums und der Intellektuellen waren entsetzt, als er die Macht übernahm – auf eine Weise, die zwar rechtlich korrekt war, aber dennoch von vielen als schmutzig und hinterhältig empfunden wurde (9). Und dann passierte das wohl entscheidende, das man dann verharmlosend „Aussitzen“ nannte: das sture Ignorieren und Ausschalten von Kritik, außerhalb der Partei vor allem in Form einer Ausschaltung der „Vierten“ Gewalt durch schlichte Nichtbeachtung.

Möglich war dies vor allem deswegen, weil Helmut Schmidt mit seiner Basta-Politik – ähnlich wie später Schröder – alle Kreativität, alle Suche nach Alternativen und allen aufmüpfigen Nachwuchs ausgeschaltet oder erstickt hatte. Zerschlagen wurde auch die neue, fortschrittlich liberale FDP. Und so gab es langfristig (bis zur Salonfähigkeit der Grünen) als Alternative nur zweite Wahl, was für eine wählbare Opposition zu wenig ist. Dazu kam die Fähigkeit Kohls, den jovialen Typ von nebenan zu spielen und die Leute glauben zu machen, er gebe ihnen genau das, was sie wollten. Zuletzt fielen leider die DDRler darauf herein, was das Elend der ganzen Republik enorm verlängerte.

Ohne die Gefahr, abgewählt zu werden, brauchte sich Kohl aber um nichts und niemanden mehr zu scheren. Demokratische Kontrolle war 16 Jahre lang ausgeschaltet. Und selbst das Rechtssystem erwies sich als machtlos oder willfährig, als Kohl sich in der Spendenaffäre frech und obszön über Gesetz und Recht stellte – und weitgehend ungeschoren davon kam:

In der CDU-Spendenaffäre nach der verlorenen Bundestagswahl 1998 verschwieg Kohl die Herkunft eines Betrags in Höhe von eineinhalb bis zwei Millionen DM, obwohl er gemäß dem Parteiengesetz, welches er als Bundeskanzler selbst unterzeichnet hatte, und der darin verankerten Publikationspflicht zur Auskunft verpflichtet war. Bis heute nimmt Kohl keine Stellung zu diesem Thema. Seine Argumentation, er habe das Geld von Spendern erhalten, denen er mit „Ehrenwort" versprochen habe, ihren Namen zu verschweigen, steht im Gegensatz zur geltenden Rechtslage und stieß seinerzeit auf heftige öffentliche Kritik. Für die der CDU durch die anschließende Sperrung der Wahlkampfkostenerstattung entstandenen finanziellen Einbußen kam Kohl mit Geld aus einer privaten Spendenaktion auf.

Ein vom Bundestag eingesetzter Untersuchungsausschuss befasste sich von Dezember 1999 bis Juni 2002 mit der CDU-Spendenaffäre. Die Arbeit des Ausschusses wurde von heftigen parteipolitischen Auseinandersetzungen begleitet. Am 18. Januar 2000 musste Kohl wegen seiner Rolle in der CDU-Finanzaffäre auf den Ehrenvorsitz der CDU verzichten. Wegen des Verdachts der Untreue zum Nachteil seiner Partei eröffnete die Bonner Staatsanwaltschaft 2000 ein Ermittlungsverfahren gegen Kohl, das 2001 gegen Zahlung einer Geldbuße in Höhe von 300.000 DM wegen geringer Schuld gemäß § 153 a StPO eingestellt wurde.

Im Rahmen von Presseveröffentlichungen zum Insolvenzverfahren von KirchMedia ab 2002 wurde bekannt, dass Kohl zu den Politikern zählte, die Leo Kirch durch umstrittene Beraterverträge an sein Unternehmen gebunden hatte. Kohl hatte nach seiner Kanzlerschaft drei Jahre lang jeweils 600.000 DM erhalten. Kritiker wie Hans Herbert von Arnim wiesen darauf hin, Kirchs Medienimperium habe während der Kanzlerschaft unter Helmut Kohl von einer besonders Kirch-freundlichen Medienpolitik profitiert. Konkrete Verdachtsmomente konnten jedoch nie erhärtet werden. Die vermutete Vernichtung verschiedener Akten aus Kohls Amtszeit wurde vielfach ironisch als Bundeslöschtage bezeichnet.“ (9).

Das gleichermaßen Erstaunliche wie Beklemmende bei der Spendenaffäre ist, dass Kohl sich so verhalten konnte, selbst als er die Macht längst krachend verloren hatte. Schlimmer noch: trotz seiner Aushöhlung der Demokratie, seinem gewaltsamen Durchpeitschen des Euro, seiner Öffnung der neuen Bundesländer für mannigfache Arten von Wirtschaftskriminalität unter dem Motto „Blühende Landschaften“ und schließlich seiner Missachtung von Recht und Gesetz wird er als „groß“ gehandelt, als ein Mann, der Geschichte geschrieben habe. Der ganze Schaden, den dieser Mann angerichtet hat, wird ihm als Verdienst angerechnet (9).

Und das ist ja noch nicht einmal der ganze Schaden. Die Neo-Liberalisierung hat er ja auch auf den Weg gebracht, auch wenn er klug genug war, die Hämmer mit freundlicher Unterstützung des oppositionellen Bundesrates solange vor sich her zu schieben, bis Rot-Grün sich daran die Zähne ausbeißen musste. Die naive, dumme oder kriminelle Entfesselung der Finanzwirtschaft durch Rot-Grün war ebenso wie Hartz IV der Vollzug dessen, was Kohl nicht mehr vollenden konnte (oder wollte?). Die Wahl-Quittung 2005 war dann sozusagen die Rache der „Geschichte“ für Kohls Abwahl 1998.

Aber diese weitgehende Freisetzung der destruktiven Tendenzen des Kapitals war ja ursprünglich genau jene Agenda gewesen, deretwegen die Lambsdorff-FDP seinerzeit Schmidt gestürzt und Kohl installiert hatte. (10)

Dass die mit diesem Kanzlersturz verbundene „geistig-moralische“ Wende eine Wende hin zur Unmoral bedeutete, ergibt sich aus den ihr folgenden (noch vergeblichen) Versuchen, die Übeltäter der Parteispenden- oder Flickaffäre zu amnestieren (11). Aus dem Scheitern dieser kriminellen Versuche an den Medien und dem öffentlichen Widerstand mag sich erklären, warum die Ausschaltung der Medien als Vierte Gewalt so zentral für Kohls Politik wurde. Und am Ausgang der erneuten Spendenaffäre in den 90er Jahren zeigt sich, dass der Versuch, in Zukunft kriminelle Politik besser zu schützen, zumindest in Teilen gelungen ist (12).

Die Medien jedenfalls sind als kritische Instanz seit Kohl weitgehend ausgeschaltet. Das jahrelange vergebliche Anrennen gerade der kritischen Intellektuellen und „Edelfedern“ gegen das System Kohl entzauberte diese, ließ sie als nörgelnde Nervensägen erscheinen und gab sie der Lächerlichkeit preis. Sie verloren ihre intellektuelle Macht. Plätze wurden frei für aalglatte Opportunisten, Hofschranzen, narzistische Egomanen und Lifestyle-Bubis, die niemandem weh taten, schon gar nicht sich selbst. Was dem schwarzen System diente, wurde gefördert. Was kritisch blieb wurde ausgetrocknet. Als Schönredner und wohlwollende Interpretatoren des Systems wurden Politologen der Sorte Langguth und Korte im TV platziert (13). Und die Vierte Gewalt insgesamt wurde immer stärkerer zu dem reinen Multiplikator für vorgefertigte PR umgebaut, als der sie sich jetzt bei S21 vorwiegend zeigt (14).

Ich würde aber aus heutiger Sicht noch einen Schritt weiter gehen, was die Beurteilung der Kohlschen Machtübernahme 1982 betrifft. Weder war das Land in einer Krise, die es erzwang, eine Regierung vorzeitig abzulösen, die bei der nächsten Wahl ohnehin abgewählt worden wäre. Noch war Lambsdorffs Sehnsucht nach der Weltwirtschaftskatastrophe, in der wir jetzt stecken, ein so dringendes Anliegen, dass es nicht noch etwas Aufschub geduldet hätte. Wenn Kohl also dennoch auf ein konstruktives Misstrauensvotum setzte, dann mag das darauf hindeuten, das er sich selbst und der Welt bereits durch die Art seiner Machtübernahme beweisen wollte, dass er keiner demokratischen Regularien und Gepflogenheiten bedurfte. Er stand über all dem. Er war der Staat und er übernahm die Macht, wenn es ihn danach gelüstete und nicht, wenn reguläre Wahlen anstanden.

(1) bit.ly/nkMoCe

(2) bit.ly/oOvh4G

(3) de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahlrecht

(4) bit.ly/mXbGO6

bit.ly/lgez7H

bit.ly/mtKiDa

(5) bit.ly/puauNV

bit.ly/qATG31

(6) bit.ly/qATG31

www.diequadriga.com/

(7) bit.ly/pulQ5d

bit.ly/nijy1e

bit.ly/r90m4v

bit.ly/mYKP07

(8) Der Spiegel, 28/ 2011, Seite 32 ff

www.freitag.de/wochenthema/1128-wir-hatten-ein-idol

(9) de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Kohl

(10) admin.fnst.org/uploads/644/Lambsdorffpapier-2.pdf

www.nachdenkseiten.de/?p=2625

www.nachdenkseiten.de/?p=346

www.zeit.de/2003/43/Reg%27krise_1982

(11) de.wikipedia.org/wiki/Wende_%28Bundesrepublik_Deutschland%29

de.wikipedia.org/wiki/Flick-Aff%C3%A4re

(12) de.wikipedia.org/wiki/CDU-Spendenaff%C3%A4re

(13) de.wikipedia.org/wiki/Gerd_Langguth

de.wikipedia.org/wiki/Karl-Rudolf_Korte

Da FREITAG penetrant meine Texte zunächst dehnt wie einen Kaugummi und dann als zu lang ablehnt, folgt der Rest dieses Textes wie so oft separat hier:

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/brd-21-die-verkohlte-republik-eine-polemik-2

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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