Die irre Republik (2): Educating Guido

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"I believe that those people who go in for excess, profiteering at the expense of the poor, these people should go to the lantern. They deserve to be strung up under the lamp post."
Dies sagte der am 25. April diesen Jahres verstorbene britische Autor Alan Slillitoe etwa ein Jahr vor seinem Tod in einem Radiointerview (0). Vier Wochen nach seinem Tod hat sein Land stattdessen eine "bürgerliche" Regierung, die weitest davon entfernt ist und, wie bei uns auch, ein Sanierungsprogramm anzustreben scheint, das den Verursachern der Krise möglichst wenig weh tut, dem Rest der Gesellschaft aber einiges zumutet.

Liberal-konservativ also heißt die Antwort, die die Wähler hier und jenseits des Kanals auf die Finanz- und Wirtschaftskrise gegeben haben. Und dennoch, wenn man sich die beiden Koalitionen im Vergleich anschaut, könnten die Unterschiede kaum größer sein.

"Zu wenig bürgerlich" findet zum Beispiel Matthias Geis Schwarz-Geld in Deutschland auf der Titelseite der heutigen ZEIT (25/ 2010). Auf der anderen Seite zeigen uns im Moment - von den hiesigen Medien fast vollkommen ignoriert -, die Briten, wie man, anders als bei uns, eine liberal-konservative Regierungsbildung richtig macht: Wahl am 6. Mai. Am 7. Mai Koalitionsangebot der Konservativen an die Liberaldemokraten ( die eigentlich mit Labour wollen, mit denen sie viel mehr Gemeinsamkeiten haben). 11. Mai Rücktritt von Gordon Brown. 12. Mai Liberalkonservative Koalition steht. Und bereits am 13. Mai die erste Kabinettssitzung und eine erste gemeinsame Pressekonferenz der beiden Chefs im Rosengarten von Number 10, wo beide beschrieben, warum dies Koalition so reibungslos und schnell zusammenfand:

" The new Prime Minister said:....."It will be an administration united behind one key purpose: to give our country the strong, stable and decisive leadership we need. We have a shared agenda and a shared resolve, to tackle the challenges that Britain faces."

Mr Clegg..... insisted: "This is a Government that will last because despite those differences, we are united by a common purpose for the job we want to do in the next five years." He added: "Until today, we have been rivals, now we are colleagues." (1)

Shirley Williams, die Hamm-Brücher der Briten, sagt es in einem Beitrag im Guardian auf ihre Weise:

"The new politics is pragmatic. The ideological loyalty of my generation is passing. I have doubts over this pact, but we have to try" (2).

Und das alles in einer für die Briten vollkommen neuen Situation ohne klare Mehrheitsverhältnisse und trotz erheblicher Differenzen zwischen den beiden Koalitionspartnern nicht nur während des Wahlkampfes. NRW läßt grüßen.

Gemeinsame Verantwortung fürs Gemeinwohl also, sachbezogener Pragmatismus statt eines Beharrens auf starrer ideologischer Selbstbezogenheit; beiderseits tragbarere Kompromiße anstelle von Profilneurose, Hahnenkämpfen und testosterongesteuerter Rivalität. Ein Gegenprogramm zu dem, was hierzulande Guidos Bubitruppe und Horstis Schuhplattler im schwarz-gelben "Dreamteam", der medial durchgepeitschten "Wunschkoalition" (Ludwig Greven) (3) bieten. Oder in den Worten von Matthias Geis: Schwarz-Gelb "hat...von Beginn an gar keinen gemeinsamen Willen entwickelt. Stattdessen vertritt sie in den zentralen Fragen gegensätzliche Positionen." (a.a.O.)

Das hat einen Hintergrund: Während das britische Mehrheitssystem (bislang) dafür sorgt, dass die Opposition sich z.B. durch Schattenkabinette tunlichst auf die Regierungsübernahme vorbereiten muß, da sie, im Falle des Falles, zwanglsäufig auf sie zukommt, erlaubt das unklare deutsche System oppositionelle Beliebigkeit und Schwelgen im Ideologischen Nebel, bis man dann irgendwann plötzlich - und gelegentlich unerwartet - in die Regierung stolpert. Beim Chef der FDP habe ich darüber hinaus den starken Verdacht, dass er es von klein auf mit dem Refrain eines Liedes von Franz Josef Degenhardt hielt:

«Sehr guter Typ», sagt er
vorm Spiegel und bläst
den Rauch durch die Nase,
verspricht sich ganz fest:
Irgendwas mach ich mal,
irgendwann,
und dann,
dann komm ich ganz groß,
ganz groß
raus. (4)

Und nun ist er angekommen und weiß nicht weiter. Was liegt da näher als das Festhalten an jahrelang geklopften Sprüchen. Das sieht zumindest nach Standhaftigkeit aus. Auch wenn es nur eine Bankrotterklärung ist. Selbst "kritische" Journalisten fallen darauf herein. Ebenso Konfliktforscher Carsten Schermuly auf ZEIT Online (3).

Nicht zu wenig bürgerlich also ist diese Koalition bzw. die FDP, sondern zu wenig sachkundig, zu wenig politikfähig, zu wenig pragmatisch. Und wie wenig man in diesem Land der Ideologen und Schwärmer von Pragmatismus weiß, demonstriert brand-aktuell Schermuly, wenn er meint:

" Ja, immer nur pragmatisch von einem Problem zum nächsten zu springen reicht nicht. Die Menschen brauchen eine Kerze in der Nacht, an der sie sich ausrichten können. " (3)

Da verwechselt einer wohl Pragmatismus mit Durchwursteln. Dass ein gemeinsames Ziel - und sei es "nur" das Gemeinwohl - dabei grundlegend ist, versteht sich von selbst. Aber das sollte ja wohl jeder Politiker von Haus aus haben. "Visionen" dagegen mögen gut für die kollektive Psyche sein. Besonders in Zeiten wie diesen. Sie scheinen mir aber durchaus nicht zwingend.

Richtig liegt Schermuly möglicherweise, wenn er bei Schwarz-Geld inzwischen auch persönliche Aversionen vermutet, die die sachlichen Differenzen überlagern und so Kompromisse nahezu unmöglich machen (3). Auch hier zeigen uns die Briten, wie es anders geht. Da wird der neue Premier von Journalisten gleich auf der ersten Pressekonferenz mit seiner Wahlkampfaussage konfrontiert, in der er seinen Vize als seinen Lieblingswitz bezeichnet hatte. Der Premier kontert souverän, man werde da wohl noch einiges zurücknehmen müssen (eat one's words), was im Wahlkampf gefallen sei. Zuvor hatte der Vize daneben gefragt, ob das tatsächlich wahr sei und nach der Bestätigung unter allgemeinem Gelächter so getan, als ob er die Pressekonferenz aus Protest verlassen würde (5).

Als Deutscher konnte man da nur noch melancholisch werden. Auch bei dem, was sonst noch passierte. Zum Beispiel, dass der Premier seinen Vize zu sich nach Hause einlädt und das leichte Abendessen auch noch selbst zubereitet (nicht die Gattin). Danach versucht man, sich bei einem Gläschen Wein endlich auch mal persönlich, jenseits der Politik, kennen zu lernen (6). Die Medien haben zu diesem Zeitpunkt das persönliche Verhältnis der beiden und das Klima in der Koalition geradezu hymnisch beschrieben:

"...begann im sonnigen Rosengarten des Regierungssitzes an der Downing Street mit der Inszenierung einer harmonischen Zusammenarbeit der beiden Regierungsparteien, die unwillkürlich die Assoziation einer Liebesbeziehung hervorrief" (NZZ) (7).

"Junge Liebe, junges Glück Mit ihrer neuen Regierung entdecken die Briten das liberale Lebensgefühl wieder" (ZEIT) (8).

Newsweek brachte es schließlich auf den Punkt:

"It seems like the right-leaning David Cameron would make an awkward coalition partner for the left-leaning Nick Clegg. Actually, they'll get along famously.
.....
Insiders say their good personal relations help explain why Clegg chose to become Cameron's deputy rather than work under the leader of the Labour Party, whose doctrine fits better with the Liberal Democrats' program......" (9)

Klingt alles etwas üppiger als die am 24. Oktober 20009 etwas verquält-herausgelächelte Verkündung des Beginns einer wunderbaren Freundschaft mit Horst Seehofer durch Guido Westerwelle. Mal abgesehen davon, dass Eigenlob laut Volksmund ohnehin stinkt, ist mittlerweile offenbar das genaue Gegenteil eingetreten.

Endgültig den Atem verschlagen hat es mir allerdings, als ich folgende Aussage von Nick Clegg las:

"In a sense I'm very lucky because David Cameron has young children. We agreed the other day we were going to slightly delay the start of the cabinet meeting to allow us both to take our children to school, which is a reflection – if any was needed – of the fact that we are both of the same generation in this new politics." He adds that he is "very rigid in saying 'no' to endless dinner invitations, to try to make sure I'm back home regularly to put the kids to bed" (10).

Der Independent spürte wohl, dass es da eine kleine Revolution in der politischen Kultur des Landes gegeben hatte, denn er machte daraus die Überschrift: Nick Clegg: 'We have put back cabinet meetings so we can take our children to school' (10).

Es funktioniert aber offenbar nicht nur das Menschliche. Am 20. Mai, also genau 14 Tage nach der Wahl, wurde der umfängliche Entwurf des Regierungsprogramms bereits akribisch von den Medien analysiert (11). Und die Wertungen waren nicht weniger hymnisch:

"Die Wahl im Mai 2010 könnte sich als markante Zäsur der britischen Nachkriegsgeschichte erweisen, ähnlich einschneidend wie die des Jahres 1945, als unter der Labour-Regierung der britische Wohlfahrtsstaat geboren wurde, oder 1979, der Geburtsstunde des Thatcherismus"(Jürgen Krönig) (12).

"Thatcher erzwang die Sanierung des in den siebziger Jahren zerrütteten Staatshaushalts mit brutaler Effizienz. Cameron will dasselbe Ziel mit wenig Staat und gesellschaftlicher Mitverantwortung erreichen – ein fast revolutionäres Vorhaben in einem Land, in dem nach Jahrzehnten Uneinigkeit stiftender Politik Zynismus, Neid und Missgunst tiefer verwurzelt sind als sonst wo in Europa" (Reiner Luyken) (13).

"Nick Clegg pledges most radical constitutional changes for 200 years" (14).

Klingt nicht nur besser als Guidos geistige Dingsbums-Wende, sondern ist auch programmatisch unterlegt und bislang von der ganzen Regierung getragen. Wobei mich die politische Ausrichtung des Regierungsprogrammes in diesem Kontext nicht interessiert. Es geht mir um den Vergleich zweier Varianten "bürgerlicher" Koalitionen: einer liberal-konservativen (GB) und einer katastrophal-konservatien (BRD).

Klar ist, dass die Probleme der Briten nicht geringer sind als die unseren:

"Grossbritannien beginnt zu sparen" (15)

"David Cameron: cuts 'will change British life'" (16).

"Cameron: 'Years of pain ahead'" (17).

"UK coalition must cut budget deficit faster, Fitch ratings agency warns" (18).

"Osborne's Bombshell: Chancellor declares war on middle-class welfare" (19).

Aber während hierzulande die gefühlte Staatratsvorsitzende dem Volk ein "Schwarz-gelbes Sparpaket, Merkels Mega-Mogelpackung" (SPIEGEL) (20) vor den Latz knallt und deklariert:

"Ich habe entschieden, dass dieses Programm, so wie wir es auf den Tisch gelegt haben, ein ausgewogenes, ein richtiges Programm ist" (ZEIT) (21), pflegt Cameron einen Stil, den man gemeinhin als demokratisch bezeichnet:

"Politicians, trade union leaders and members of the public were invited today by the Government to engage in the debate on how to cut the budget deficit and ensure Britain lives within its means" (22).

Immerhin stellt der Guardian angesichts der globalen Sparprogramme dann doch noch eine Gemeinsamkeit auch zwischen unseren beiden Ländern fest: "The lunatics are back in charge of the economy and they want cuts, cuts, cuts" (23).

Man wird sehen, wie die Briten mit ihren Problemen fertig werden. Ein Problem haben sie jedenfalls schon mal weniger. Anders als Frau Merkel, muss David Cameron keinen Guido nachsozialisiern. Vielleicht sollte sie ihn für einige Zeit zur Therapie nach London schicken. Dass er von seinem liberalen Kollegen Clegg einiges lernen könnte, hat sich bereits bei Cleggs Antrittsbesuch in Berlin gezeigt. Was in deutschen Medien nach meiner Kenntnis unkommentiert blieb, war den britischen Blättern einige Zeilen wert: Cleggs offenbar tadelloses Deutsch. Und ich dachte wieder an Trampel-Guidos Auftritt gegenüber jenem britischen Journalisten, der höflich angefragt hatte, ob man vielleicht Englisch.....(24)

___________________

(0) www.telegraph.co.uk/culture/books/booknews/4329360/Author-Alan-Sillitoe-says-the-rich-should-be-strung-up.html

(1) www.independent.co.uk/news/uk/politics/cameron-and-clegg-hail-a-new-political-era-on-their-first-day-in-power-1972259.html

(2) www.guardian.co.uk/commentisfree/2010/may/13/our-duty-to-make-coalition-work

(3) www.zeit.de/politik/deutschland/2010-06/koalition-konflikte?page=all

(4) www.golyr.de/franz-josef-degenhardt/songtext-irgend-was-mach-ich-mal-630006.html

(5) news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/8678278.stm

(6) www.independent.co.uk/news/uk/politics/phew-the-rollercoaster-libcon-coalition-1980483.html

(7) www.nzz.ch/nachrichten/international/sonniger_start_in_downing_street_1.5714281.html

(8) www.zeit.de/2010/21/Grossbritannien-Koalition

(9) www.newsweek.com/ID/237842

(10) www.independent.co.uk/news/people/profiles/nick-clegg-we-have-put-back-cabinet-meetings-so-we-can-take-our-children-to-school-1988980.html

(11) news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/8693832.stm

Policy-by-policy: Coalition plans

www.guardian.co.uk/politics/2010/may/20/conservative-liberal-democrat-coalition-agreement-analysis

Coalition agreement - the full deal at a glance

www.independent.co.uk/news/uk/politics/from-banks-to-welfare-the-notable-new-commitments-in-the-32page-policy-blueprint-1978875.html

From banks to welfare, the notable new commitments in the 32-page policy blueprint
The Independent's verdict on what the policies really mean in eight key areas


(12) www.zeit.de/politik/ausland/2010-05/grossbritannien-koalition-konservativ-liberal?page=all

(13) www.zeit.de/2010/21/Grossbritannien-Koalition

(14) www.guardian.co.uk/politics/2010/may/19/nick-clegg-radical-constitutional-reform

(15) www.nzz.ch/nachrichten/wirtschaft/aktuell/grossbritannien_defizit_sparen_massnahmen_1.5787395.html

(16) www.guardian.co.uk/politics/2010/jun/06/david-cameron-spending-cuts

(17) www.guardian.co.uk/business/2010/jun/08/coalition-must-cut-budget-deficit-faster-fitch

(18) www.timesonline.co.uk/tol/news/politics/article7144906.ece

(19) www.independent.co.uk/news/uk/politics/osbornes-bombshell-chancellor-declares-war-on-middleclass-welfare-1995009.html

(20) www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,699375,00.html#ref=rss

(21) www.zeit.de/politik/deutschland/2010-06/wulff-bundespraesident-wahl-koalition

(22) www.independent.co.uk/news/uk/politics/union-leaders-and-public-urged-to-debate-deficit-1994709.html

(23) www.guardian.co.uk/business/2010/jun/14/lunatics-economy-cuts-frankin-roosevelt

(24) "Clegg stressed that he and Hague were delighted to be in "wonderful" Berlin. "When we left this morning it was a slightly grey day in London, and it's beautifully sunny here," he said, adding in fluent German: "I find the famous Berlin air very refreshing."
.....
"The press pack and German aides chuckled – more out of surprise than anything else. It is highly unusual for any British politician to utter more than a few German words, let alone be fluent in the language.

Of Clegg, who has a German press spokeswoman, Westerwelle said: "I'd like the English journalists to know ... his German is excellent."

www.guardian.co.uk/politics/2010/jun/10/nick-clegg-david-cameron-berlin

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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