„Es gibt die schöne, alte Geschichte von der schwäbischen Familie, die beim Bergwandern in eine tiefe Felsspalte fällt, dort allseitig verwundet liegenbleibt. Nach zwei bangen Stunden ertönt vom Rand der Felsspalte weit oben der Ruf: „Hier ist das Rote Kreuz!“ Antwort von unten mit letzter, ermatteter Kraft: „Mir gebbat nix!“ (Wir geben nichts). Selbst noch in höchster Not, so die Moral dieser Geschichte, vermutet der sparsame Schwabe nicht selbstlose Hilfsbereitschaft, sondern unziemliche Begehrlichkeiten von Leuten, die es auf sein Geld abgesehen haben....“ So beginnt Gerhard Stadelmaier 2006 einen Kommentar in der FAZ, in dem er sich mit einem der zahlreichen Schmuddelgeschichten aus der baden-württembergischen CDU-Geschichte befasst, dem Kunstdeal der Landesregierung mit dem Haus Baden, in dem die Regierung Oettinger in einem Vergleich für 8 Millionen Euro ein Bild von Hans Baldung Grien erwerben wollte.
Der Clou bei der Geschichte: das Bild gehörte dem Land bereits seit 76 Jahren, was das Haus Baden bestritt. Und vom Land eingeholte Rechtsgutachten rieten zu einem Vergleich. Und einer der Gutachter hieß Thomas Würtenberger, welcher derjenige ist, der im Untersuchungsausschuss zum Schwarzen Donnerstag vehement für das Menschenrecht von Kindern und Jugendlichen stritt, einer Intensiv-Erziehungsbehandlung durch Wasserwerfer und Pfefferspray unterzogen zu werden ;)
„Der demokratisch gewählte, republikanisch inthronisierte Günther Oettinger geht gerade mit der Sammelbüchse durchs Land, um Museen, Bibliotheken und Kulturinstitutionen in höchster Not Geld abzupressen, das diese durch Verkauf oder Versteigerung von wertvollen Handschriften und Bildern aufzubringen hätten - um das altfeudale markgräfliche Haus Baden sanieren zu helfen“, schreibt Stadelmaier weiter.
Bettina Wieselmann von der Heidenheimer Neuen Presse wird noch konkreter: „Unter größter Geheimhaltung bereiten das Land und das Haus Baden einen Deal vor, der allen Interessen gerecht werden soll. …. geopfert werden [sollen] Teile der Handschriftensammlung der Badischen Bibliothek. Ziel ist es, wie aus bestens unterrichteten Kreisen zu erfahren war, etwa 70 Millionen Euro auf dem freien Markt zu erlösen. Mit bis zu 30 Millionen Euro sollen die finanziellen Altlasten des Hauses Baden bedient werden. Der Rest soll in eine Stiftung Schloss Salem gesteckt werden. ... Seit Jahr und Tag gibt es.... zwischen Land und dem Haus Baden unterschiedliche Ansichten über die rechtlich korrekte Besitzzuordnung bedeutender Teile badischer Kunstschätze. Das als strittig eingeschätzte Volumen beläuft sich auf mehrere hundert Millionen Euro. Betroffen davon sind große Teile der Handschriften, aber auch Gemälde, die zum Bestand der Staatlichen Kunsthalle gehören. Um sich über Verkäufe sanieren zu können, soll das Adelshaus dem Land sogar mit einem Prozess gedroht haben......Bibliotheksdirektor Ehrle ist überzeugt: Wenn 70 Millionen Euro erlöst werden, "müssen aus dem vom Haus Baden reklamierten Bestand "alle Spitzenstücke und mehr weg. Die Sammlung wäre zerstört."
www.blb-karlsruhe.de/blb/blbhtml/2006/presse-faz061104-1.php
Und es fällt eine weitere Gemeinsamkeit zu S21 mit dieser Affäre ins Auge: „Seit' an Seit' sichtlich um eine Versachlichung der hitzigen Debatte bemüht, konnten oder wollten Frankenberg wie Stratthaus verschiedene Fragen allerdings (noch) nicht beantworten. Zum Beispiel wird vorerst ein Experten-Gutachten unter Verschluss bleiben, das die CDU/FDP-Koalition zu der Auffassung gebracht hatte, ein Vergleich mit dem Haus Baden sei auf jeden Fall einer gerichtlichen Klärung vorzuziehen. Vor allem gewinne das Land durch die Einigung mehr Kunstschätze als jetzt verloren gingen, so Frankenberg, der die ganze Aktion in einer Erklärung unter "Gewinn an Kulturgütern" subsummiert.“
Die Geheimhaltung hatte natürlich ihren ganz besonderen Hintergrund: „Der Landtag muss noch über das Geschäft befinden, das von Fachleuten als skandalös bezeichnet wird (nebenstehender Beitrag). Unterstützung bekamen die Kritiker nun auch vom Heidelberger Verfassungshistoriker Reinhard Mußgnug. Er rät dem Land, den Rechtsstreit zu riskieren: "Nach meiner Überzeugung sind die Gegenstände, um die es jetzt geht, ohnehin Eigentum des Landes." Demnach gäbe es überhaupt keinen Bedarf zu einem Handel mit dem Adelshaus.“
www.suedkurier.de/news/dossiers/onlinedossiers/hausbaden/Wie-man-einen-Verlust-schoenredet;art12041,2283981
Schließlich kann man auf eine letzte Gemeinsamkeit zu S21 stoßen: „In der Vergangenheit (Hofbibliothek Donaueschingen, Baden-Auktion 1995 usw.) hat sich das Denkmalamt als zahnloser Tiger erwiesen. Betroffene Wissenschaftler koennten versuchen, unter Berufung auf Art. 5 GG eine Klagebefugnis vor einem Verwaltungsgericht abzuleiten, da Denkmaeler Sachen und Sachgesamtheiten sind, die unter anderem aus wissenschaftlichem Interesse bleibend erhalten werden. Ansonsten steht die Forschung einmal mehr fassungslos da und staunt, was gierige (Ex-)Eigentuemer und willfaehrige Politiker alles zur Disposition stellen koennen.“
archiv.twoday.net/stories/2697632/
Unter anderem darum ging es damals darum:
de.wikipedia.org/wiki/Markgrafentafel
www.blb-karlsruhe.de/blb/blbhtml/2006/blb-geschichte.php
www.blb-karlsruhe.de/blb/blbhtml/2006/presse-faz061104-1.php
Und so resümiert Wikipedia:
„Im September des Jahres 2006 wurde zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland seitens einer Landesregierung der Versuch unternommen, in Museen und Bibliotheken verwahrte größere Mengen an Kulturgütern in den Kunst- und Antiquitätenhandel zu geben; der Versuch verursachte einen bis dahin beispiellosen internationalen Protest von Fachleuten, Wissenschaftlern und Bürgern.“
de.wikipedia.org/wiki/Handschriftenverk%C3%A4ufe_der_Badischen_Landesbibliothek
Der massive öffentliche Widerstand scheint in diesem Fall- soweit ich das beurteilen kann - am Ende die schlimmste schwarz-gelbe Barbarei verhindert zu haben.
www.landtag-bw.de/WP14/Drucksachen/4000/14_4107_d.pdf
Die Gemeinsamkeiten zu S21 – und teilweise auch zum ENBW-Rückkauf - sind frappierend: Ausschaltung des Denkmalschutzes, Geheimdiplomatie statt demokratischer Transparenz, Unterwerfung unter Kapitalinteressen statt Primat der Politik, Verschleuderung bzw. Zerstörung von Werten, die der Allgemeinheit gehören, willfährige „Gutachter“ und der Versuch, von privaten Interessen, vom Steuerzahler Geld für etwas zu bekommen, was diesem längst gehört. Es gibt aber auch einen entscheidenden Unterschied: bei S21 haben die Wähler endlich dafür gesorgt, dass eine Regierung an die Macht kommt, die nach anderen Maßstäben zu arbeiten versprach.
Und dieser Unterschied zeigte sich erstmals bei den Beratungen über eine Baustoppverlängerung
im sogenannten Lenkungsausschuss, als die Bahn, die dem Steuerzahler gehört, der Budapester Thermalnutten-Philosophie des „Alles ist käuflich“ folgend, sich die Verzögerungen beim Bau, die ohnehin durch interne Probleme eintreten dürften,*) von der Landesregierung – also dem Steuerzahler - als „Baustoppverlängerung“ fürstlich honorieren lassen wollte. Doch diesmal war die größenwahnfreie Antwort klischee-schwäbisch: „Mir gäbbat nix“. Und das könnte für die Bahn arg dumm gelaufen sein, jedenfalls wenn man Jörg Exner folgt:
„Mein alter Mathelehrer sagte immer: „Wenn ihr jemanden sucht, der nicht an den lieben Gott glaubt, dann geht zu den Theologen.“ Sehen Sie, und genau so ist das auch mit Stuttgart 21: Bei der Bahn glaubt man am allerwenigsten, dass der Tiefbahnhof jemals in Betrieb gehen wird. Der Vorstand des Konzerns und seine Ingenieure wissen am besten, dass S 21 nicht funktionieren kann.
Solange die Bahn aber die Landesregierung hinter sich wusste und von Stadt und Land ein ums andere Mal Geld in den Hintern geschoben bekam, hatte sie keine Veranlassung, diese Einsicht an die große Glocke zu hängen – ließ sich doch trefflich mit dem Projekt verdienen. Wichtig war nur, die Sache unumkehrbar zu machen, bevor der ganze Schwindel auffliegt.“
21einundzwanzig.de/1167/liebe-freunde-von-stuttgart-21
Mit ihrer Haltung stellt sich die neue Landesregierung damit durchaus an die Seite der Steuerzahler – zumindest an die Seite derjenigen, die sich gegen den Irrsinn21 stellen. Und die stehen in einer guten Tradition, wie man leicht selbst überprüfen kann, wenn man sich die Hässlichkeit vorstellt, die Stuttgart heute auszeichnen würde, wenn die polit-ökonomische Kaste bereits in der Vergangenheit ungehindert ihre auto- und Immobilienhai-gerechten Barbareien hätten durchsetzen können, für die Günther Oettinger nachträglich den passenden Leitspruch formulierte:
„Die Deutschen seien heute in der "unglaublich schönen Lage", nur von Freunden umgeben zu sein.... "Das Blöde ist, es kommt kein Krieg mehr."
www.stern.de/politik/deutschland/neues-aus-dem-schwabenland-ein-oettinger-ein-fettnapf-581643.html
Kein Krieg also, dafür aber ein Herr Grube von der Bahn. Und der verfügt offenbar über genügend zerstörerisches Potential und einen hinreichend großen Mangel an ökonomischer Vernunft, um den Krieg der „Maultaschen-Connection“ gegen das Volk nicht nur willfährig, sondern höchst engagiert zu führen. Der Bonatzbau, vor allem aber der Schlossgarten sollen unwiderruflich zerstört werden und so Stuttgart ausgerechnet in seinem Herzen doch noch die Hässlichkeit bescheren, die der Erhalt von Neuem Schloss, Markthalle, Wilhelma-Theater u.a. bislang noch in Grenzen hielt. Massiver Widerstand der Bürger hatte nämlich verhindert, dass die herrschende „Kultur“-Elite die „Chronique scandaleuse der unnötigen, übereilten, blamablen Abrisse“ (Amber Sayah) zu hundert Prozent umsetzen konnten. Die dümmlichen „Argumente“, die dabei zum Einsatz kommen „scheinen sich von Volksvertreter zu Volksvertreter weiterzuvererben. Wie sonst ließe sich erklären, dass sich die Begründungen über die Jahrzehnte nahezu wörtlich gleichen? Nach diesem logischen Muster wird ein Denkmal schlechtgemacht oder sein bauhistorischer Wert zumindest angezweifelt, seine Erhaltung daher als zu teuer und überflüssig bezeichnet, so dass sein Abriss nur als kleiner Verlust erscheint - unumgänglich und leicht verschmerzbar, da es schließlich einer überlebensnotwendigen Entwicklung geopfert wird, der es sonst im Weg stehen würde.“
www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=226
Der Theologe und Philosophie-Professor Ferdinand Rohrhirsch bringt den dahinter stehenden Wachstumsbegriff so auf den Punkt: „Lieber bauen wir etwas Falsches, als gar nichts!“
21einundzwanzig.de/1206/das-gefuehl-man-will-mich-fuer-dumm-verkaufen
Claus Schmiedel, Fraktionschef der SPD im Stuttgarter Landtag, schafft es, die spezifische, kaum mehr zu unterbietende Niveau der baden-württembergischen SPD-Führungsriege noch tiefer zu legen: „Wo ein Bagger steht, da geht es uns gut.“
Diese Selbstkarikatur des schwäbisch-roten Nachkriegsspießers ist nicht mehr zu toppen. Sie offenbart, was hinter der Stuttgarter Nachkriegsbarbarei insgesamt stehen könnte: die Lücke, die die Nazis in die geistige und kulturelle Eliten mordeten, füllte sich nach dem Krieg mit einem Personal, das die Lücken, welche die Alliierten in die historische Architektur gebombt hatten notgedrungen auf eine platte, eindimensionale Weise zu schließen versuchte. Dass dieselbe Stuttgarter Führungsschicht sich dem ganz selbstverständlich vorgesehenen Abriss der früheren Gestapo-Zentrale zugunsten eines Konsumtempel-Alptraums erst zaghaft zu widersetzen begann, als sich vor Ort und darüber hinaus massiver Widerstand zu regen begann, passt ebenso ins Bild, wie die erstaunliche Tatsache, dass die hiesige SPD bis heute nicht bereit ist, ihre Zustimmung zum Dürrschen Ermächtigungsgesetz von 1994 bezüglich S21 zurückzuziehen („Die Art der Präsentation ... im April 1994 war ein überfallartiger Vorgang. Gegner und Skeptiker sind nicht im Stande gewesen, die Sache zu zerreden. Ein Musterbeispiel, wie man solche Großprojekte vorstellen muss.“ / Stuttgarter Nachrichten vom 14. Februar 1995).
de.wikipedia.org/wiki/Hotel_Silber
Im Grunde vereinen sich in der Stuttgarter Städebau-Politik nach dem Krieg Alexander Mitscherlichs Diagnosen von der deutschen „Unfähigkeit zu trauern“ und der „Unwirtlichkeit der Städte“ zu einem einzigen Katastrophenbefund. Dass sich im massiven bürgerlichen Widerstand gegen S21 – wie auch gegen den Abriss des „Hotel Silber“ - auch zahlreiche Intellektuelle und Kulturschaffende finden, gibt Anlass zu der Hoffnung, dass sich da einige von den Nazis geschlagene Wunden endlich zu schließen beginnen und die überfällige Trauer um die Verluste endlich eine Zukunftsfähigkeit hervorbringt, die Menschengemäßeres zu schaffen vermag, als die obszöne Ästhetik eines totalitären Kapitals. Und dass da durchaus auch noch anderweitige Aufarbeitung nötig sein könnte, bestätigt so manches, was aus dem Kreis der Befürwortergemeinde um „Pfarrer“ Bräuchle in der Vergangenheit zu hören und zu sehen war.
*) Dass der angebliche „Baustopp“ der Bahn vermutlich ganz andere Hintergründe hat als die von der Bahn vorgeschobenen politischen Rücksichtnahmen, und dass die Forderung nach „Kostenerstattung“ mithin nichts weiter sein dürfte als der Versuch einer blanken Abzocke des Steuerzahlers kann man aus einer aktuellen Mitteilung der Parkschützer zum sogenannten Nesenbach-Düker schlussfolgern, dessen Bau seit nunmehr 400 Tagen im Verzug sein soll, weil eine Laienspielschar der Bahn entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Ausschreibung so vorzunehmen, dass sie rechtskonform ist und die Risiken für die Interessenten tragbar sind.
Ergänzende Links:
www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=162
www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=230
www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=229
Teil 2: Ordnung und Müll