Stuttgart 21: die Parteien, der Protest, die Gutachten

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Die Abrissarbeiten am Seitenflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs können jeden Moment beginnen. Der Protest Tausender hat die Geschichte zu einem mehrdimensionalen Politikum gemacht. Inzwischen wird das enge Netzwerk aus Unternehmen, Bahn und Politik durchleuchtet, das mit der Bezeichnung „Spätzle Connection“ noch freundlich umschrieben ist. Angesichts der im kommenden März bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg hat Stuttgart 21 auch eine gewisse Betriebsamkeit auf Parteienebene hervorgerufen: Die Grünen und die Linkspartei wollen beim Protest mit an der Spitze stehen, die Landes-SPD ringt mit ihrer Zustimmung zu dem viel kritisierten Projekt - während die sozialdemokratische Linke sich bereits für einen Baustopp ausgesprochen hat. Die regierende CDU von Ministerpräsident Stefan Mappus gerät unterdessen ins Stuttgart-21-Zwielicht: Zeitungen berichten, die Landesregierung habe das Milliarden-Projekt erst durch einen „unzulässigen Großauftrag für die Bahn“ auf die Schiene gebracht - Mappus war damals Staatssekretär im Verkehrsministerium.

Frankfurter Rundschau: Tricksen und täuschen - hier
Stuttgarter Zeitung: Bleibt die SPD bei ihrem Ja? - hier
Politologe Oscar W. Gabriel: Für die SPD riskant - hier
Peter Conradi (SPD): Stuttgart 21 ist noch umkehrbar - hier
SPD-Linke: Herausforderung für die Demokratie - hier
Linkspartei: Gespräche statt Gewalt - hier
Grüne schlagen Spitzengespräch vor - hier
Spiegel: Mappus und ein fragwürdiger Millionenauftrag - hier

Derweil mobilisiert eine bunte Bürgerbewegung in der Neckarstadt immer erfolgreicher gegen Abriss und Neubau - was sich in Zeitungstexten niederschlägt, die eine „Auferstehung von Wyhl, Gorleben und Startbahn West“ voraussehen, nur eben „in einer bürgerlicheren Variante“. Und der Protestforscher Dieter Rucht sagt in der Süddeutschen: „Die Sitzblockade ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“

Bei Abriss Aufstand - hier
Schwabenstreich - hier
Leben in Stuttgart - hier
Parkschützer - hier
Alternativkonzept K21 - hier
Gewerkschafter gegen S21 - hier
Jugendoffensive gegen S21 - hier

Am Horizont zeichnet sich die vage Möglichkeit eines Moratoriums und einer anschließenden „Bürgerbefragung“ ab - was die Frankfurter Allgemeine zum Anlass nimmt, sich über die direktdemokratischen Gefahren für die repräsentative Demokratie Gedanken zu machen, gleichzeitig aber auch die Parteien zu schelten: Der Widerstand sei die Kehrseite eines „peinlichen Versagens der Politiker, die sich für das Milliarden-Projekt stark gemacht haben“. Alles nur schlecht kommuniziert? Der Bahnhof als Protestfolie für ein ökologisch angespitztes Bürgertum? (Die Grünen stehen in Baden-Württemberg in Umfragen bei 20 Prozent) Ein dritter Frühling für ergraute Stuttgartliebhaber? Eine Frage der „entgleisten Gefühle“, ein Aufstand mit „undemokratischen Zügen“?

Welt: Das Elend der Fortschrittsfreunde - hier
FAZ: Vox populi gegen „die da oben“ - hier
Süddeutsche: Stadt der entgleisten Gefühle - hier
Tageszeitung: Der konservative Protest - hier
Tagesspiegel: Wenn es unterirdisch wird - hier

Die Probleme von Stuttgart 21 und der zum Gesamtvorhaben gehörenden Neubaustrecke Wendlingen - Ulm lassen sich allerdings nicht einfach zu einer lokalpolitischen oder kulturellen Marotte umdeuten. Auch Experten halten das Projekt für fatal.

Das KCW-Gutachten für das UBA

Im August hat das Umweltbundesamt eine Studie von Michael Holzhey von der Beratungsfirma KCW GmbH (Berlin) veröffentlicht, die sowohl die prognostizierten Kosten in Frage stellt als auch die schädlichen Folgen von Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen — Ulm für den ökologisch sinnvollen Ausbau des Schienengüterverkehrs kritisiert. Der „sehr hohe Aufwand steht unseres Erachtens in keinem Verhältnis zum geringen verkehrlichen Nutzen“, heißt es in dem Gutachten. Die geplante Neubaustrecke sei „de facto für den Güterverkehr nutzlos“ bzw. schade ihm sogar. Das Gesamtvorhaben wird von KCW als „hochgradig ineffektiv“ beschrieben, außerdem wird vor „erheblichen mittelbaren Kollateralschäden auf Landes- und Bundesebene“ gewarnt. Die für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke eingeplanten Milliarden „stehen woanders nicht zur Verfügung. Dieser Kannibalisierungseffekt trifft vor allem Baden-Württemberg selbst“. Zum Bahnhof heißt es: „Schließlich ist die Begründung nicht plausibel, der heutige Kopfbahnhof sei betrieblich nicht leistungsfähig, weshalb er durch einen Durchgangsbahnhof ersetzt werden müsse. Nach Meinung der meisten Experten ist das Gegenteil der Fall. S21 beseitigt kein Nadelöhr, sondern schafft neue (...). Auf die gravierenden betrieblichen Probleme weist auch eine Studie von SMA [privates Schweizer Beratungsunternehmen für öffentlich-rechtliche und private Verkehrsbetriebe mit Sitz in Zürich] im Auftrag der Landesregierung Baden-Württemberg hin, die wegen ihrer Brisanz über zwei Jahre unter Verschluss gehalten wurde, ehe sie im Juli publik wurde.“

Schienennetz 2025/2030. Ausbaukonzeption für einen leistungsfähigen Schienengüterverkehr in Deutschland, Michael Holzhey von KCW GmbH (Berlin) im Auftrag des Umweltbundesamtes: Seite 151ff. - hier

Studie des Züricher Planungsbüros sma+ Partner

„Aufgrund der Brisanz der vorliegenden Resultate ist absolutes Stillschweigen erforderlich“, hieß es im Juni 2008 in einer Aktennotiz zum sma-Gutachten. Erst zwei Jahre später wurde die Expertise publik. Sie geht auf Kapazitätsprobleme des geplanten Bahnhofs ein, spricht von einem „hohen Stabilitätsrisiko“, einem „schwer beherrschbarem Gesamtsystem“, das zudem „geringe Gestaltungsmöglichkeit des Fahrplans“ eröffne.

Aktennotiz - hier
Teil I (Charts 1 bis 20) - hier
Teil II (Charts 21 bis 38) - hier

Geologische Risiken

„Im Untergrund des geplanten Bahnhofs lauern geologische Katastrophen“, schrieb die Süddeutsche vor ein paar Tagen, „deren Auswirkungen nicht absehbar sind“. Es geht um Funde von Anhydrit bei den Bodenuntersuchungen - ein Mineral, „das, wenn es längere Zeit mit Feuchtigkeit in Berührung kommt, um 50 Prozent anschwillt und unaufhaltsam alles zur Höhe oder zur Seite drängt, was in seiner Nähe ist“, so das Blatt. Die Folge könnte „Salzsprengung“ sein, ein Vorgang, „der beim Berg- und Tunnelbau katastrophale Folgen hat“. Ganz neu ist das Szenario nicht. Von möglichen Bodenhebungen war schon vor rund einem Jahr die Rede, Geologen warnten - doch die Bahn zeigte sich überzeugt, „das Restrisiko beherrschen zu können“. Nicht zuletzt sieht der VCD schon seit längerem, dass durch Stuttgart 21 „die Quellschüttungen der drei Stuttgarter Mineralbäder, insbesondere Mineralbad Berg, gefährdet“ seien.

Hydrogeologie und Baugrund, Schutz der Mineral- und Heilquellen. Eine Bestandsaufnahme von 1996 - hier

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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