Bildungsanstalt oder Zuchthaus. Schule im Reformrausch.

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So viel Reform von Schule wie in den vergangenen Jahren war wohl noch nie, lese ich. Wie wahr! Ich habe noch die Stimme unserer neuen Schulministerin im Ohr, die - wohl von bestimmten Facebook-Aktionen aufgeschreckt - gestern im Radio verkündete, dass demnächst der vernünftige Internetumgang schon in den Grundschulen zu unterrichten sei. Aber das war gestern. Morgen gibt's sicher eine neue "Reform".

"Reformgewitter" nennt der Autor des Eingangssatzes das, was seit Jahrzehnten über die Schulen kommt. Andreas Gruschka ist einer der wenigen deutschen Erziehungswissenschaftler, die diese interessegeleitete "Getriebenheit" kritisieren. Er hat nun aus z.T. früheren Arbeiten ein nicht nur bildungspolitisch spannendes Büchlein gemacht. In der Tradition der Kritischen Theorie stehend, geht er über die notwendige Kritik hinaus: es kann nicht um ein Zurück zu Vor-Pisa gehen, sondern es gibt REFORMEN, die in der Tat die Not wenden.

Kurz und prägnant wird das Reformgewitter analysiert. Es ging nicht mehr um "Strukturfragen", sondern um die Verbesserung der schulischen Ergebnisse, um Output-Steuerung - zur Freude nicht nur der Bildungsökonomen genannten Betriebswirtwschaftler. Die "Effizienz" kam auf den "Prüfstand". Und man stellte fest: Die "Qualitätsstandards" wurden nicht erreicht - bei weitem nicht. Also hat man an allen Problemstellen "Baustellen" aufgemacht. Der ideelle Reichtum der ministeriellen Ratgeber schien grenzenlos zu sein, schreibt Gruschka, Er konstatiert eine "entfremdete Getriebenheit" bis heute. Der Reformdiskurs, manchmal zaghaft kritisiert, ist bis heute ungebrochen, ein technokratischer Reformdiskurs, der mit Plastikwörtern und Leerformeln ausgefüllt.

Das Ergebnis kann nur kontraproduktiv sein. Schule ist eine Bildungsanstalt - oder ein Zuchthaus. Eine bittere Feststellung. Inhalte werden entsorgt, die Schüler werden - um die Sinnhaftigkeit des Bildungserwerbs betrogen - nur noch gedrillt. Sie werden - möchte ich ergänzen - zu Kompetenzträgern portfoliorisiert. Sie werden Objekte der hegemonialen Didaktisierung, die nur noch vereinfacht, schematisiert, aktualisiert, analogisiert und präsentiert.

Doch schafft diese schöne neue Welt der Erziehung (wie soll es bei Zauberlehrlingen anders sein?) neue Probleme: Es gilt bei inhaltlicher Leere die Arbeitsdisziplin aufrechtzuerhalten. Gruschka analysiert luzide die warenästhetisch produzierten Leitbilder ("Menschen achten, Verantwortung für sich und andere übernehmen, Leistung ermöglichen" u.ä.), Rituale, die wie ein verhaltenstherapeutisch sozialtechnisches Setting wirken, Verträge (wie abgeschrieben von Hausordnungen in Mietshäusern) und die allseits beliebte Streitschlichtung. Besonders verbreitet (fast ausnahmlos sogar) und trotz Kritik wohl unabschaffbar ist das Methodentraining. Sarkastisch charakterisiert Gruschka die beliebten methodischen Rezepte eines Heinz Klippertz, der buchstäblich "Schule macht". In den Hochschulen, schreibt Gruschka, ist er mittlerweile angekommen - der Arbeitstyp des Unterstreichers.

Es ist evident. Ziel der Reformen ist die Erziehung zur Bereitschaft, sich als vereinzelter Einzelner im Wettbewerb zu bewähren. Und wo bleibt sie, die Emanzipation? Schließlich gibt es heutige Reformer, sehr renommierte sogar, die vor gut dreißig Jahren mit "strategischem Lernen in der Gesamtschule" den Kapitalismus zu überwinden helfen wollten. Gruschka ist lakonisch. Er erkennt nicht nur nichts Neues, sondern überhaupt nichts mehr.

Kein angenehmer Befund also. Und keine schönen Zukunftsaussichten. Und doch pflanzt Gruschka sein Apfelbäumchen und versucht, die Reformen konstruktiv zu wenden. Denn ein ein Zurück zu vorpisanen Zeiten verbietet sich von selbst.

Es geht um das "Verstehen lernen", ja richtig: Verstehen. Denn das mechanische Einüben ist in der Schule nur ein Ausnahmefall. Verstehen kann aber nur an den Inhalten ansetzen. Die Methode wird nur gewählt, wenn sie den Inhalt aufschließt. Erziehen "speist sich", so Gruschka ebenso links wie konservativ, aus der humboldtschen "Hingabe an die Sache" - durch Neugier und Streben nach Sinn. Kognitive Dissonanz im Unterricht produziert Anstrengung auf Seiten des Schülers. Es braucht Unzufriedenheit mit dem Zufriedensein mit dem Ungefähren dem Rückzug auf die eigene Meinung, dem vermeintlich fehlenden eigenen Talent. Gruschka beschreibt im weitgehenden Sinne das, was man problemorientierten Unterricht nennen könnte. Er meint allerdings keine Scheinprobleme.

Er illustriert dies an einem beeindruckenden Beispiel. Eine Lehrerin gibt ihrer Klasse ein Gedicht Oskar Loerkes (Blauer Abend in Berlin) - und zwar - unerhört für die Reformer - ohne jede methodische Anleitung. Sie lässt die Schüler das Gedicht mehrmals laut und leise lesen, gibt ihnen Zeit, die kognitiven Dissonanzen zu erkennen und zu formulieren, die "Verrücktheiten" des Gedichts - und ermöglicht damit den eigentlich poesie-phoben Schülern erstaunliche Erkenntnisse. Doch plötzlich bricht die Lehrerin das Gespräch ab und teilt Übungsblätter aus, mit dem üblichen didaktischen Krimskrams. War es das schlechte Gewissen der Didakterin? Die Angst davor, auch sich in Frage zu stellen? Eines macht dieses Beispiel deutlich: ein "in der Vermittlung des Verstehens" aufgehender Unterricht mit Mündigkeit (als) Freisetzung des Lernenden zu Urteil und Kritik setzt Lehrende voraus, die ihr Fach kennen (und lieben).- Also wahre "Master of Education".

Das Buch ist mit feiner Ironie und ziemlich jargonfrei geschrieben. Eine Empfehlung für Studierende, Referendare und Lehrer - wenn diese denn belehrbar sind.


Andreas Gruschka, Verstehen lernen. Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart 2011 (Philipp Reclam jun.)

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