Postmoderne war gestern

Kunst Wir leben in Zeiten, in denen die Kunst wieder so radikal modern ist wie am Anfang des 20. Jahrhunderts: Wie damals, als Picasso den Kubismus schuf

Als mir zum ersten Mal vorgeworfen wurde, ich würde die moderne Kunst hassen, war ich verwirrt. Ich liebe moderne Kunst, wendete ich ein. Ich verehre Cézanne. Ich vergöttere Matisse. Es dauerte ein paar Minuten, bis klar wurde, dass mit dem Begriff „moderne Kunst“ in diesem Gespräch jene Kunst gemeint war, die ich zeitgenössisch nennen würde, also die Kunst von heute im Gegensatz zu der, die im späten neunzehnten Jahrhundert entstand und vor ungefähr hundert Jahren mit den aufwieglerischen Werken Picassos und den Erwiderungen seines Rivalen Mattisse volles Bewusstsein ihrer selbst entfaltete.

Mit dem Modernismus, hätte ich zu Zeiten jener Unterhaltung geantwortet, war es gegen 1960 vorbei. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Es machte den Eindruck großer Naivität und historischer Unkenntnis, wenn vor einigen Jahren die Arbeiten von Künstlern wie Antony Gormley oder Tracey Emin als „moderne Kunst“ bezeichnet wurden – es schien sich um eine unglückliche Nebenwirkung des Imagewandels, der der Tate Gallery verpasst worden war, zu handeln. Mit der Benennung eines Museums mit ausgesprochen zeitgenössischer Ausrichtung als „Tate Modern“ setzte sich die einflussreichste Institution der Kunstwelt rücksichtslos über Definitionen, Kategorien und den Anspruch an Präzision hinweg. Wie oft habe ich beanstandet, in Wirklichkeit müsse das Haus „Tate Post-Modern“ heißen. Heute scheint die Wortwahl bei der Namensgebung nicht mehr blödsinnig oder einer Begriffsverwirrung geschuldet.

Rausch und Geschwindigket

Wir leben – wieder – in modernen Zeiten. Das denkt natürlich jede Generation über sich selbst. Seit den 1900ern, in denen Picasso den Kubismus schuf, war keine Zeit mehr so schnell, so unvorhersehbar und so vielversprechend veränderlich, wie die heutige. In den Tagen, in denen der Kubismus explosionsartig entstand, wurde die Welt deutlich erkennbar zu einem neuen Ort mit elektrischem Licht, dem ersten motorisierten Flug, dem Automobil, dem Phonografen, Radio, Kino. Dieser Moment war unglaublich spannend und voller Möglichkeiten. Ungefähr zwischen 1890 und 1940 wurde die Welt - um es in einem Wort zu sagen - modern.

Heute finden vergleichbar tiefgreifende und gewaltige Umbrüche statt. Das moderne Leben wird moderner. Wir betreten das Science Fiction-Zeitalter. Neue Technologien entstehen und entwickeln sich mit rauschhafter Geschwindigkeit. Daran liegt es wohl, dass ich nicht mehr hasse, was mein Gesprächspartner mit „moderner Kunst“ meinte. In einer Welt, die sich so schnell verändert wie die unsrige, kann man unmöglich von Künstlern verlangen, nicht von den stetigen Metamorphosen aller Dinge fasziniert zu sein. Zynismus gegenüber der Moderne ist nicht mehr angebracht. Man betrachte nur einmal dieses Blog, das nicht weniger darstellt als eine neue Form, eine neues Genre, das vollkommen neue Selbstverständnis eines Kritikers.

Alles ist im Wandel. Was dieser Wandel verspricht? Wer weiß das schon. Vielleicht eine „post-humane“ Zukunft, eine Zeit der Cyborgs. So schien es den Menschen auch vor hundert Jahren, als Brancusi und Duchamp Bildnisse von Robotik und anderen fremdartigen Dingen schufen.

Die derzeitige Kunst ist modern, vielleicht sogar modernistisch. Auf jeden Fall ist sie nicht mehr „postmodern“. Diese Definition gehört in die Achtziger, in denen der Niedergang des Sozialismus und der Fall des Staatskommunismus die Illusion einer Zeit nach dem Ende der Geschichte erzeugten. Manchmal wird diese Zeit auch „altermodern“ genannt, meiner Meinung nach lautet der richtige Ausdruck aber schlicht „modern“. Die Versuche der Kunstschaffenden auf das Neue, Moderne zu reagieren zeugen von Befreiung aber auch Unbehagen. Die Zeit verlangt Wagemut, diesmal allerdings steht uns für die Verortung unserer selbst eine Tradition des Neuen zur Verfügung. Deshalb noch einmal in aller Deutlichkeit: ich liebe moderne Kunst.

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Jonathan Jones, the Guardian | The Guardian

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