Die Güte des Wütenden

Film "Das Herz von Jenin" begleitet einen palästinensischen Vater auf der Reise zu den israelischen Kindern, denen er nach dem Tod seines Sohnes das Leben gerettet hat

Erst zwölf Jahre alt ist Ahmed Khatib, als er 2005 von israelischen Soldaten in Jenin, einem palästinensischen Flüchtlingslager im Norden der West Bank, getötet wird. Die Soldaten hatten seine Spielzeugpistole für echt gehalten und das Feuer eröffnet. Der Junge wird in ein Krankenhaus nach Haifa gebracht, dort können die Ärzte aber nur den Hirntod feststellen. Am Sterbebett wird Ahmeds Vater Ismael mit einer schwerwiegenden Frage konfrontiert, die mitten in seine Wut und Trauer hineinschneidet: Ob er die Organe seines Sohnes zur Spende freigibt, auch wenn jüdische Kinder die Empfänger sein sollten?

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Der Dokumentarfilm Das Herz von Jenin erzählt die Geschichte, die sich aus Ismaels Entscheidung ergibt. Bevor er sie fällt, bespricht er sich mit religiösen und politischen Autoritäten, dem Imam von Jenin und dem lokalen Chef der militanten Al-Aksa-Brigaden. Beide raten ihm zu. Nur das Herz nicht, teilt Ismael im Krankenhauses schließlich mit – um kurze Zeit später auch diese Einschränkung zu revidieren.

Ismaels Entschluss, von dem insgesamt sechs Kinder profitieren, ist zu diesem Zeitpunkt in Israel längst ein Medienereignis. Der in den USA geborene jüdische Regisseur Leon Geller, der bereits 2005 erste Aufnahmen der Eltern jener Kinder drehte, denen Ahmeds Organe das Leben rettet, hat sich gemeinsam mit dem deutschen Filmemacher Marcus Vetter den Fall zwei Jahre später noch einmal vorgenommen.

Beeindruckend ist dieser Film vor allem wegen seiner Hauptfigur: Ismael, der inzwischen ein Jugendzentrum in Jenin leitet, erläutert nicht nur seine Entscheidung, sondern gibt auch Zeugnis von den unsäglichen Lebensbedingungen in dem Flüchtlingslager – ohne Bürgerrechte, bedroht von Razzien, abgeschnitten von Verwandten durch die israelischen Sperranlagen, die Sharon 2003 errichten ließ. Besonnen, klug, melancholisch wirkt Ismael, wenn er von diesem Leben und dem sinnlosen Tod seines Kindes spricht. Wie präsent die Konfliktlinien dennoch sind, erfährt man auch in den Details, etwa wenn Ismael darauf hinweist, dass seine Entscheidung den Israelis auch geschadet hat: bloßgestellt vor der Weltöffentlichkeit durch die Großzügigkeit eines Unterdrückten, dem der Sohn genommen wurde. Der Film ist in diesem Punkt weniger reflektiert als seine Hauptfigur: unmotiviert eingestreute Fernsehbilder von palästinensischen Selbstmordattentaten ergeben keine Konfliktanalyse.

Das Herz von Jenin begleitet Ismael auf einer Reise, die dem Fortleben des Sohnes gilt. Gemeinsam mit einem Verwandten besucht er die Kinder, die mit den gespendeten Organen weiterleben: ein drusisches Mädchen, Samah, das an der libanesischen Grenze lebt, mit Ahmeds Herz; Mohammed, Sohn eines fröhlich-fatalistischen Beduinen, der von einem Nierenleiden geheilt ist und muntere Fahrradausflüge in die Wüste Negev unternimmt; und schließlich Menuha, die kleine Tochter ultra-orthodoxer Juden in Jerusalem.

Es ist erwartungsgemäß die letzte Konstellation, der der Film die größte Aufmerksamkeit widmet. Menuhas Vater, der bereits 2005 in Gellers Kamera sagt, dass er hoffe, seine Tochter müsse nicht durch die Organe eines „Arabers“ gerettet werden, ist auch durch Ismaels Großzügigkeit nicht in seinem Rassismus irritierbar, der tief sitzt und der nächsten Generation indoktriniert wird. Entsprechend beklemmend fällt die Begegnung aus. Warum er denn nicht auswandere, in die USA oder die Türkei, fragt ihn Menuhas Vater. Weil es meine Heimat ist, gibt Ismael verständnislos zurück, bevor er nach Hause fährt, in das Flüchtlingslager von Jenin.

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