140 Zeichen geballte Belletristik

Twitteratur (I) Was früher der „abgeschlossene Roman“ war, heißt heute Twitteratur. 140 Zeichen geballte Belletristik. Eine Revolution im Literaturbetrieb

Bekanntlich liegt die Kunst des Romaneschreibens darin, nicht alles aufzuschreiben, was einem gerade durch die Birne rauscht. Kürzen, Streichen, Auslassen: das macht einen Roman erst zu einem Kunstwerk. Das gute alte Buch als Medium der Literatur ließ hier viele Sünden zu: Marcel Prousts A la recherche du temps perdu umfasst in der deutschen Ausgabe über 5.000 Seiten. Schon Monthy Python riefen deshalb zu einem Proust-Kürzungswettbewerb auf.

Andere Romane wie Jan Graf Potockis Die Handschrift von Saragossa (959 Seiten) oder Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dag (838 Seiten) wurden von der Kritik zwar hochgelobt, blieben aber aufgrund ihres Umfangs von der Welt unbeachtet. Das kann nicht im Interesse von Kunst und Künstler sein.

Twitteratur, getwitterte Literatur also, sorgt hier für eine radikale künstlerische Disziplinierung. Ein "tweet" pro Werk. Maximal 140 Zeichen. Minus Autornamen. Zu wenig finden sie? Höchstens für eine Novelle gut? Ja, auch für eine Novelle. Hier ein Beispiel:

Als die Erde anfing zu beben, fassten sich Karl und Gudrun bei den Händen. Diese Schweißhände, dachte sie (105 Zeichen)

Aber natürlich lässt sich auch ein Reiseroman twittern:

Wie jeden Freitag griff er nach der grünen Umhängetasche und stürmte die Treppe herunter. War er zu spät? Wo blieben die anderen? (130 Zeichen)

Zugegeben, der Schluss spielt leicht ins Kriminalistische rein. Hier nun ein lupenreiner Krimi:

Atem, Schritte, Geraschel im Gebüsch, wieder Atem. Ein Schrei, Stille, endlose Stille. Der Berg, immer. Dort, im ewigen Eis (104 Zeichen)

Sie bevorzugen den symbolistischen Roman, der auf kommende gesellschaftliche Katastrophen hinweist? Kein Problem:

Die wichtigsten Sätze werden im Spaß gesagt, dachte Ernst und beschloss zu schweigen. Als er aufhörte, hatte keiner mehr etwas zu lachen (136 Zeichen)

Gut, das ist schwere Kost, die man nicht immer erträgt. Dagegen hilft dann ein Schundroman:

Yves trat an die Marmorbrüstung und wies auf die Palmenhaine zu seinen Füßen. „Alles meins“, sagte er. Angélique erbebte. Jean Clé (137 Zeichen)

Sie sehen: Twitteratur liest sich fast so leicht, wie sie sich schreibt. Im Grunde genommen existiert kein Genre, das sich nicht twittern lässt: Fortsetzungsroman, Bildungsroman, Nouveau Roman, das poème en prose... Jeder nach seinem Geschmack. Halt, ein Vorteil wurde ja noch gar nicht genannt. Hieß es früher ars longa vita brevis, also: die Kunst braucht Zeit, das Leben ist kurz, so darf man ab sofort sagen: ars brevis vita longa. Wer seine Romane twittert, hat mehr vom Leben. Und er hat mehr Leser. Machen Sie ruhig die Probe aufs Exempel. Am besten gleich hier in der Kommentarspalte oder twittern Sie einfach @derFreitag.

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