Paranoia im Themenpark

Heldenmythen 3500 Polizisten sicherten die Jackon-Trauerfeierlichkeiten im Staples Centre. Man war auf alles gefasst, aber dann geschah nichts. Ein Bericht von Tom Kummer

Es ist 6:15 Uhr, als die ersten Sonnenstrahlen Downtown Los Angeles treffen. Spektralfarben breiten sich unter der Smogdecke aus. Überbelichtung setzt ein. Der apokalyptische Themenpark erwacht. „Only in America can someone be born a poor black kid, and die a rich white woman...“, erklärt Bill Handle, ein konservativer Radiohost des Senders KFI 640, seinen Zuhörern die Bedeutung von MJs Tod.

Zehn Meilen nordwestlich von Downtown kreisen Hubschrauber über einer schwarzen Limousine – “ein Phantomwagen ohne Polizeischutz, womöglich der Leichenwagen”, meldet ein Experte auf KTLA-TV. Im Sarg: “Ein Schädel ohne Hirn, vielleicht ein King ohne Körper....” Freakisch wahr. Um 07: 45 Uhr unterbrechen die fünf grossen amerikanischen TV-Sender ihr Programm und gehen auf Liveschaltung, nie ein gutes Omen für L.A. Etwas Unerklärliches lastet dann über der Hauptstadt der Unterhaltungskultur – wie eine schwarze Wolke aus War of the World. „Vielleicht zürnt uns ein Gott“, predigt ein Fernsehpfarrer im fernen Orange County an diesem Morgen. “Wegen all der unanständigen Filmen, der perversen Popstars, den menschenverachteten Themen die Hollywood produziert“.

Jose Martinez ist das alles egal. Liveschaltungen der Fernsehanstalten, Hubschrauberlärm oder massiver Hi-Tech-Polizeieinsatz sind für die Bewohner von Downtwon L.A. bloss noch an Hiob erinnernde Prüfungen, verbunden mit massiver Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Martinez ist mein Nachbar und kommt an jenem Morgen nicht an seinen Wagen heran. Alles abgesperrt. Seinem Bruder hatten sie sogar den Wagen abgeschleppt, bloss weil er in der Zone geparkt war, in der man ohne goldene Tickets nicht reinkam. Es gibt viele fluchende Arbeiter in der
abgeschotteten Zone rund um das Staples Center.

Und die Trauer in den Gospel-Kirchen von South-Central hat an diesem Morgen wohl weniger mit Jackos Tod zu tun als mehr mit der Sehnsucht nach jenen goldenen Tagen der Jackson Five, die so verführerisch die Unschuld des Pop und den möglichen Anschluss des schwarzen Amerikas an einen weissen Mittelstand in sich trug. Rund um das Staples Center ist ausser den Riesenposter von Basketballstars wie Magic Johnson nichts davon zu erkennen.

Paranoia als höchstes Kulturgut von L.A.

Es ist ein Morgen, an dem die Apokalypse Schwarz trägt und am Himmel weisse Nebelschwaden auf den Pazifik zurasen, schuldiges Weiss über einem fiktionalisierten Grossraum, dessen Bewohner mit dem Konzept „Tod von Pophelden“ nichts mehr zu tun haben wollen. Ein Heer von über 500 angereisten Journalisten, Larry King, Anderson Cooper und wie sie alle heissen, sehen das natürlich anders. Wie auch die 3500 Polizisten, die um das Staples Center stationiert sind – mehr als bei der Olympiade 1984. Polizisten überall, wie bei einem Bürgerkrieg, halten verlegen Stellung gegen etwa 500 versprengte Jacko-Fans ohne Tickets. Erwartet wurde ein Ansturm von über 100 000 aus den anliegenden Quartieren mit ihren victorianischen Absteigen und Bruchbuden, die heute von Latinos bewohnt werden. Dort, wo in den 50er Jahren schwarze Helden wie Ornette Coleman den Cool Jazz und Hard Bebop in geniale Höhen trieben. Damals zettelte die Rassenspannung in Los Angeles noch musikalische und gesellschaftliche Revolten an; die Umdeutung von Elend in Freiheit, von Fremdheit in Wahrheit. Später auch das freiwillige Erfahren schwarzer Lebensbedingungen bei weissen Hipstern im Interesse existentialistischer Erkenntnis.

An diesem Morgen, als Paris ihren toten Vater zum besten Daddy aller Zeiten erkürt und dann zusammenbricht, flammt unter den Medienvertretern vielleicht tatsächlich kurz die “existenzielle” Hoffnung auf, dass Leben in den apokalyptischen Themenpark von L.A. käme. Vielleicht sogar mit Szenen wie damals bei der Flucht von O.J Simpson, dem Fall Rodney King oder noch besser, den L.A. Riots. Entfesselte Massen am Strassenrand, Szenen wie in Mekka, Menschen die sich zu Tode trampeln oder vor den Leichwagen stürzen. Aufstand der Strassengangs, Plünderungen in Downtown. Alles sei möglich, sagte am Vorabend ein Sprecher des Los Angeles Police Department, man bereite sich mit einem perfekten Dispositiv auf das Schlimmste vor. Schliesslich zählt Paranoia zu den höchsten Kulturgüter von L.A.

Aber den Herzblut-Fan gibt es in dieser Kultur nicht mehr. Kein Kreischen. Keine Weinkrämpfe. Kein Aufstand der Minderheiten. Das Phänomen “Fan”, von Hollywood erschaffen, ist im Begriff hier auch wieder auszusterben.

Tom Kummer (geb. 1963) lebt als Sportlehrer und Autor in Los Angeles. Zuletzt ist von ihm erschienen Blow up. Die Story meines Lebens. blumenbar, München 2007.

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