Die Generalvertreter des Bösen

Kino In Venedig wurde der neue Film von Michael Moore frenetisch bejubelt. Ist "Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte" wirklich so gut?

Die Bankräuber, die am Anfang des Films von Überwachungskameras festgehalten werden, sind schon ein verlorener, kläglicher Haufen. Wir sehen einen heruntergekommenen alten Mann im Hawaiihemd und eine Person, die aussieht, wie ein zwölfjähriger Junge mit Sturmhaube. Trotz all ihrer wild entschlossenen Bemühungen, kommen sie nicht an die wirklichen Gangster heran, an die Bankdirektoren, die sich gerade erst mit 700 Milliarden US-Dollar öffentlichen Geldes davon gemacht haben, ohne weitere Verpflichtungen eingegangen zu sein. So was nennt sich sauberer Abgang.

Michael Moores neue Dokumentarfilm hat am Samstag beim Filmfestival von Venedig stürmischen Applaus erhalten, was vermuten lässt, dass der altgediente Zeterer nichts von seiner Macht eingebüßt hat, Reaktionen zu provozieren. Und lässt der Film letztlich doch den sauberen Schlag vermissen, mit dem der Rekordbrecher Fahrenheit 9/11 aufwartete, liegt das nur daran, dass die verbrecherische Szene, die er sich diesmal vornimmt, so groß ist und es der Übeltäter so viele sind.

Der große Schurke ist selbstverständlich der Kapitalismus selbst. Den zeigt der Film als gerissenen alten Schürzenjäger, der darauf aus ist, die Taschen einiger Weniger auf Kosten der Vielen zu füllen. Amerika, so heißt es in einem an die Öffentlichkeit gedrungenen Bericht der Citibank, sei dieser Tage eine moderne „Plutonomie“, in der das oberste eine Prozent der Bevölkerung 95% des Wohlstandes kontrolliere. Macht die Wahl Barack Obamas all dem nun ein Ende? Der Regisseur hat da seine Zweifel und verweist darauf, dass Goldmann Sachs – die hier als Generalvertreter des Bösen dargestellt werden – die größte private Spende zu Obamas Wahlkampfkampagne beigesteuert hat.

Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte ist abwechselnd grob und rührselig, erregt und belebend. Gezeichnet wird das Bild eines schlichten moralischen Universums, das von guten kleinen Typen und bösen Großen bevölkert wird. Dennoch kann man sich der grundsätzlichen Kraft der Argumentation nur schwer entziehen.


Wie weiland Columbo

Vor allem hat Moore (oder zumindest diejenigen, die für ihn recherchieren) ganze Arbeit geleistet, die menschlichen Geschichten hinter den Schlagzeilen aufzuspüren. Keine davon ist so erschreckend absurd wie die der privatisierten Jugendstrafanstalt in Pennsylvania, die unter Beihilfe eines betrügerischen örtlichen Richters betrieben wurde, der in seinem Gericht Jugendliche zu Unrecht verurteilte, um einen Teil der Gewinne einzustreichen. Ganze 6,500 Kids, so stellte sich später heraus, wurden fälschlicherweise für geringfügige Vergehen wie Grasrauchen oder weil sie „den Freund meiner Mutter mit Steak beworfen“ hatten, verurteilt. Die Rechnung für ihre Haft ging direkt an den Steuerzahler.

Welche Schlussfolgerung zieht Moore daraus? Dass der Kapitalismus sowohl unchristlich als auch unamerikanisch ist, ein Übel, das nicht Regulierung, sondern Eliminierung verdient. Der Überzeugung war er zwar zweifelsohne sowieso und auch schon bevor er den Film gemacht hat, aber egal. Es hat etwas Anregendes – fast schon Bewegendes – wie er sich ausmacht, einmal mehr den Beweis zu erbringen. Wie ein watscheliger Columbo häuft er Belege an, sammelt Zeugenaussagen von Opfern und klopft dann an die Türen der Schuldigen.

„Ich brauche Rat!“, schreit er einen eiligen Wall-Street-Händler an, der gerade sein Büro verlassen hat. „Machen Sie keine weiteren Filme!“, schreit der zurück. Moore, der angesichts dessen in sich hinein gluckst, lacht auch zuletzt. Dies ist - mehr als jeder andere - der Streifen, von dem „die“ sich wünschen werden, dass er ihn nie gemacht hätte.


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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Xan Brooks, The Guardian | The Guardian

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