Berlin nur für die Besten

Vorstandsmeinung Thilo Sarrazin ist so umstritten wie meinungsstark. In der aktuellen Debatte um die "Kopftuchmädchen" sind viele Thesen untergegangen. Wir stellen sie zur Diskussion

Der frühere Berliner Finanzsenator und heutige Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin sorgt seit Tagen für Empörung. In einem Interview in der Zeitschrift Lettre International sagte er unter anderem, eine große Zahl von Arabern und Türken in Berlin habe keine produktive Funktion außer für den Obst-und Gemüsehandel, und es werde sich vermutlich auch keine Perspektive für sie entwickeln. Was Sarrazin über die Hauptstadt-Entwicklung sonst noch sagte, ist über diesen skandalösen Sätzen kaum wahrgenommen worden. Wir dokumentieren die weiteren Thesen:

1. Die Stadt ist überdimensioniert
„1939 hatte Berlin 4,3 Millionen Einwohner, Charlottenburg hatte in den dreißiger Jahren doppelt so viele wie heute.“ 1989 gab es 1,9 Millionen im Westen und 1,3 Millionen im Osten. Heute, ergänzt Thilo Sarrazin, sind es 3,3 Millionen. Also ist die Stadt um eine Millionen Einwohner, das sind 23 Prozent, geschrumpft. Die durch den Hauptstadtwechsel wirtschaftlich gesicherten Einwohner schätzt er auf 300.000 bis 500.000.

2. Berlin fehlt seit dem Krieg die Produktionskraft
In Ostberlin lebten „Hunderttausende, die dem Regime zugetan waren“ und die Industrie war veraltet. Die Westindustrie war subventioniert, wenig dynamisch und ab 1961 ohne kluge Köpfe. Nach der Wende gingen beide unter. Sarrazin schätzt aktuell noch 95.000 „relativ stabil[e]“ Industriearbeitsplätze. Wegen des Mangels an Exportgütern und Banken könne Berlin – im Gegensatz zu Wien – nicht zur Drehscheibe für Osteuropa werden. Berlins Dienstleistungsindustrie sieht besser aus; der ehemalige Senator zweifelt aber an der notwendigen Mentalität.

3. Berlin hat (auch) nach der Wende vor allem auf Subvention gebaut
Ost-Berlin habe „fortwährend die Ressourcen des übrigen Landes“ abgezogen. Genauso West-Berlin: „Für die Erfolge Berliner Politik war es wichtiger, in Bonn zu antichambrieren, als die Kraft der Stadt zu stärken.“ Mit der Wiedervereinigung fielen die Bonner Subventionen schlagartig weg, um den Aufbau Ost zu finanzieren. Die selben Politiker machten 1991 weiter wie gehabt (vor allem Fehlinvestitionen in Bauprojekte). „[I]n Berlin saß ein verfetteter Subventionsempfänger, der durch Entzugsschmerzen erst wieder an die Wirklichkeit gewöhnt werden mußte.“ Sarrazin brauchte sieben Jahre um die Finanzen zu richten.

4. Die Berliner Mentalität verhindert eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation
Neben der Kritik an türkischen und arabischen Migranten nimmt Sarrazin die Deutschen aufs Korn. Die „Achtundsechziger und alle, die Berlin eher als Lebensplattform suchten“, seien nicht leistungsorientiert. Aber auch der „Westberliner Schlampfaktor“ wird für Berlins Niedergang verantwortlich gemacht. Nicht zuletzt habe die Judenverfolgung Berlin massiv getroffen, der Verlust zahlloser Intelektueller, Ärzte und Künstler konnte nie mehr kompensiert werden.

5. Die rigide Stadtbaupolitik von Hans Stimmann war ein „absoluter Triumph“
Sarrazin schmäht deutlich die moderne Architektur, die zu „achtzig Prozent aus funktionalen und ästhetischen Irrtümern besteht“. Die Leistung Stimmanns sieht er in dem Wiederaufbau des alten Stadtgrundrisses. Der „leicht verhaltensgestörte“ Senatsbaudirektor mag kleine Fehler zugelassen, aber – durch Traufhöhe und steinerne Fassaden – ein stimmiges Stadtbild geschaffen haben.

6. Chancen für Berlin: Eine Stadt für die Eliten
„Die Probleme sind lösbar; ob sie gelöst werden, weiß ich nicht.“ Berlin habe das Glück, dass der Stadt der wirtschaftliche Transformationsprozess von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft entgegenkommt. Sarrazin plädiert aber für deutliche Veränderungen. Weg vom „eher plebejisch und kleinbürgerlich“ aufgestellten Berlin, hin zu Leistungsbereitschaft durch Eliteorientierung in Verwaltung und Bildung. Weg mit den Massenuniversitäten und dem schlechten Schulsystem. „Berlin sollte für die Besten attraktiv sein.“

Die Thesen beziehen sich auf das Gespräch, das Thilo Sarrazin mit Frank Berberich in Lettre International No. 86 geführt hat.

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