Claude Lévi-Strauss zählt sicher zu den größten Gelehrten des 20. Jahrhunderts. Dem Marxismus und der Psychoanalyse vergleichbar, wurden seine Anregungen für verschiedenste Sozial- und Kulturwissenschaften fruchtbar. Übrigens empfing auch ein namhafter Psychoanalytiker, Jacques Lacan, solche Anregungen. So könnten zahlreiche Linien zu Ehren des Verstorbenen gezogen werden. Ich will mich jedoch auf eine beschränken, die dem engsten politischen Interesse dient, und werde nichts weiter erörtern als die Frage des Rechts-Links-Schemas in unseren westlichen Gesellschaften. Was Lévi-Strauss hierzu anmerkt, gibt uns ohne viel abstrakte Erörterung eine Vorstellung von seinem Ansatz, dem "Strukturalismus".
Wer rechts ist, hat recht, wer links ist
links ist, ist link, das heißt falsch: So sagen es uns die Worte. Was ist das für ein System, in dem solche Zuschreibungen, die doch peinlich sind, wechselseitig unbewusst akzeptiert werden? Dies System war nicht immer ein unbewusstes. Es lag als "duales System" den "wilden" vorstaatlichen Gesellschaften, deren Logik Lévi-Strauss untersucht hat, ausdrücklich zugrunde. Ihm selbst fiel die Ähnlichkeit auf. Es gebe da "ein Ordnungsprinzip", schrieb er bereits 1947 in Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, "das in sehr unterschiedlicher Weise angewendet werden und vor allem unterschiedlich entwickelt sein kann. In manchen Fällen erstreckt sich das Prinzip lediglich auf die sportlichen Wettkämpfe; in anderen auf das politische Leben (und die Frage, ob das Zweiparteiensystem nicht einen Ansatz von Dualismus bildet, ist keineswegs absurd); in anderen wiederum auf das religiöse und zeremonielle Leben."Das Zwei-Parteien(lager)-System erscheint als Variante einer "Struktur", der wir schon in den archaischen Gesellschaften begegnen. So in der materiellen und ideologischen Gliederung der archaischen Dörfer. Wie Lévi-Strauss einmal sagt, bestanden sie gleichsam aus "aneinanderklebenden" Hälften, bildeten also gar nicht recht eine Einheit. Ihre Hauptfunktion war die bequeme Gewährleistung der Exogamie, des Frauentauschs zwischen den Hälften. Diese Hälften hatten Namen. Wenn es manchmal direkt die Namen "rechts" und "links" waren, wird man das noch nicht überraschend finden.Politik und VerwandtschaftVor einem zweigeteilten Dorf stehend, werde ich eins natürlich links und das andere rechts sehen. Aber warum heißt die eine Hälfte immer links und die andere immer rechts, egal von welcher Seite aus ich sie betrachte? Mit mir, dem Betrachter, verhält es sich freilich nicht anders. Auch meine linke Hand ist immer am selben Ort. Was ein "Rechts-Links-System" ist, kann ich am besten an meinem eigenen Körper studieren. Sein Grundzug liegt darin, dass es zwei Hälften hat, die ungefähr gleich stark sind. Es gibt eine dominante Seite, das ist die rechte, aber sie ist nicht in der Weise dominant, wie es ein Offizier in einer Armee wäre; nicht "top-down", sondern nur als leichtes Übergewicht der einen Waagschale über die andere. Gewiss hat eine Seite die Macht, doch die andere stellt immerhin eine "Gegenmacht" vor.Das Verhältnis von Mann und Frau steht Modell: Im "wilden Denken" verhält sich männlich zu weiblich wie die rechte zur etwas schwächeren linken Hand. In der archaischen Ordnung waren eben die "Strukturen der Verwandtschaft" zugleich schon die finalen politischen Strukturen. Deshalb verwundert es nicht, dass die eine Hälfte eines Dorfs sich zur andern wie männlich zu weiblich verhält. Lévi-Strauss hebt hervor, dass diese Gesellschaften das Verhältnis "zwischen dem Oben und dem Unten, dem Himmel und der Erde, dem Festland und dem Wasser, dem Nahen und dem Fernen, dem Linken und dem Rechten, dem Männlichen und dem Weiblichen, usw." jeweils "asymmetrisch" erlebten.Das wird deutlicher, wenn wir die Diskurse der Dorfhälften betrachten. Sie elaborieren die "Asymmetrie": Eine gibt sich als schwächer und proklamiert das Recht, es sein zu dürfen. Zum Beispiel das Dorf der "Unteren" und "Oberen": Den Unteren fallen die Rollen von Krieg und Polizei zu, während die Oberen für Frieden und Vermittlung zuständig sind. Oder das Dorf der "Schwarzen" und "Weißen": Die Schwarzen mussten "alle ihre Unternehmungen bis zum Ende durchführen", die Weißen "besaßen das Recht, aufzugeben".Ist es nicht verrückt, dass sich daran bis heute kaum etwas geändert hat? Denn während die Konservativen Krieg und Polizei spielen und ihre Unternehmungen bis zum Ende führen, sind die Sozialdemokraten für Frieden und UNO zuständig und nehmen sich das Recht, ihre Politik über Bord zu werfen, sobald sie einmal an die Regierung gelangt sind.Das Muster ist nicht der ZwangNur, ist es nicht ebenso verrückt, im modernen Parteiensystem Spuren archaischer Dörfer und ihrer Verwandtschaftsordnung wiederfinden zu wollen? Dass in ihm eine familiare Ideologie waltet, ist aber gar nicht so überraschend. Unter "Linken" ist die Vorstellung verbreitet, es verhielten sich linke zu rechten Parteien wie Arbeiter zu Kapitalisten. Friedrich Engels aber behauptete, in der bürgerlichen Gesellschaft verhalte sich der Mann zur Frau wie der Kapitalist zum Arbeiter. Er schrieb auch, die Familie erscheine als Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft.Man kann schlussfolgern: Auch wenn in einer kapitalistischen Gesellschaft, die aus solchen Keimzellen besteht, die Struktur der Verwandtschaft nicht mehr dominant sein kann, ist sie sehr wohl noch vorhanden, und deshalb kann die Ideologie einer solchen Gesellschaft von ihr beherrscht sein. Das Parteiensystem könnte die Materialisierung einer Familienideologie sein: fähig, die nackten ökonomischen Verhältnisse durch eine sachlich unzutreffende und zudem unbewusste, also besonders unwiderstehlich wirksame Mann-Frau-Metaphorik zu verhüllen.Wie man an diesem Exempel erkennen kann, unterscheidet sich der Lévi Strauss'sche Strukturalismus von anderen Strukturalismen. Man kann "idealtypisch" zwischen einem generativen und einem komparatistischen Strukturalismus unterscheiden. Für den generativen Strukturalismus steht Noam Chomsky: Er unterschied Oberflächen- und Tiefenebenen der Sprache, konstruierte Sprachbäume und führte konkretes Sprechen auf Sprachwurzeln zurück, die, so schien es, "generierende" Kraft hatten. Diese Version von Strukturalismus ist offenbar verantwortlich dafür, dass man unter "Struktur" häufig die "feste und starke Struktur", gar die "dem Subjekt überlegende Struktur" glaubt verstehen zu sollen.Doch der Begriff bringt an sich nur den Komparativ zum Ausdruck, dass beim Vergleich mehrerer Modelle neben Trennendem Gemeinsames herausgekommen ist und in diesem Gemeinsamen ein Muster. Ein Muster kann auf einen Zwang verweisen, der desto größer ist, je häufiger er sich wiederholt; aber niemals ist das Muster selbst dieser Zwang. Und niemals gibt es einen prinzipiellen Grund, weshalb der Zwang nicht sollte gebrochen werden können. Im Gegenteil: Sobald die Beteiligten das Muster erkennen, dem sie sich gefügt haben, können sie es verlassen.Beobachtet man zum Beispiel, dass eine Oppositionspartei immer wieder "Ihr sagt X? Wir sagen Ja zu X! Aber wir fordern auch Y!" zur Regierungspartei sagt - und diese antwortet vielleicht: "Ihr fordert Y? Wir sagen ja zu Y! Aber wie ihr es fordert, so nicht!" –, dann muss man nicht annehmen, eine solche Struktur sei selbst dasjenige, was die durch sie strukturierten Debatten "generiert". Eine solche Annahme wäre sogar ziemlich unsinnig. Aber die Ähnlichkeit mit fruchtlosem Ehegezänk springt ins Auge. Nun kommt man vielleicht auf die von Lévi-Strauss gelegte Spur und beginnt als Teilnehmer am Parteiensystem einen anderen, weniger grobmaschigen Diskurs.
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