Die Kunst des höheren Abschreibens

Raubdruck Uwe Tellkamp und die Plagiatsvorwürfe: Was sagt die Literaturwissenschaft dazu?

Uwe Tellkamp ist einmal mehr ins Gerede gekommen. In der NZZ hatte Dorothea Dieckmann explizite Parallelen zwischen der Schilderung eines Dresdener Antiquariats im 2003 erschienenen Erzählband Die letzten Mohikaner von Jens Wonneberger und dem 2008 veröffentlichten Bestseller Der Turm nachgewiesen. Die Dresdener Autorin Jayne-Ann Igel wiederum hatte deutliche Übereinstimmungen zwischen Stefan Wachtels Gefängnistagebuch delikt 220 von 1991 und dem Turm beobachtet.

Nachdem die TV-Sendung „Sachsenspiegel“ ein Interview mit Wonneberger mit missverständlichen Aussagen ausgestrahlt hatte, fordert der Schriftsteller vom MDR jetzt eine Gegendarstellung. Nun lässt sich fragen, ob Analogien in der Darstellung von Räumen und Figuren bereits den Vorwurf des Plagiats rechtfertigen. Zumal es sich bei Tellkamps Romanwerk um einen Ziegelstein handelt, der auf 950 Seiten die Welt des Dresdener Bildungsbürgertums mit überbordernder Beschreibungswucht verfolgt und dabei jene Topographien befestigt, die einer (westdeutschen) Literaturkritik als das lang erwartete Zeugnis von (ostdeutscher) Vergangenheitskartierung galten. Zugleich ließe sich fragen, ob die Unmutsäußerungen angesichts der nun entdeckten Ähnlichkeiten der Methode eines Schriftstellers gelten, der Vorgänge recherchieren musste – oder ob es nicht auch darum geht, einen Autor zu demontieren, der sich zum Sprachrohr des vereinigten Deutschland gemacht hat.

Wie dem auch sei: Die jetzt beginnende Debatte um Uwe Tellkamp und seinen Roman macht weitere Einsichten möglich, als nur die Feststellung von mehr oder weniger deutlichen Entlehnungen aus Texten von Autorenkollegen. Sie kann zeigen, dass die Welt des Turms und der Turmgesellschaft von Bezugnahmen auf erfahrene Realität ebenso lebt wie von vorgängigen Schilderungen und Rekonstruktionen dieser Welt durch andere Werke. Papierwelten stellen eben nicht Abbilder von Realität dar, sie sind vielmehr Konstruktionsleistungen der Erinnerung und der Imagination. Texte liefern – auch wenn sie sich auf historische Gegebenheiten beziehen – stets eigene Beschreibungen und Deutungen der Vergangenheit. Diese sind aber nicht nur individuell gemacht und veränderlich, sondern immer auch ein Reservoir von Möglichkeiten, an denen sich andere Autoren reproduktiv orientieren können.

Ein Gewinn

Kein geringerer als Thomas Mann hat diesen Umgang mit vorgängigen Texten und Quellen – der bis zu einer von ihm selbst als „ungeniert“ bezeichneten Integration eines Brockhaus-Artikels in die Buddenbrooks reichte – als die „Kunst des höheren Abschreibens“ bezeichnet. Dieses höhere Abschreiben besteht aber eben nicht in der bloßen Kopie eines Textes oder Textteils, sondern in dessen gelingender Integration in einen neuen Zusammenhang, der als eine eigene (fiktionale) Welt funktioniert und seinerseits spezifische Wirkungen entfaltet.

Ein Text, der wie der Turm ein Universum von sozialen und emotionalen Beziehungen entwirft und detailliert ausgestaltet, kann deshalb durch Entdeckungen von Bezugnahmen und Refenzen nur gewinnen. Denn die dafür notwendige Aufmerksamkeit setzt nicht allein die Investition emotionaler und kognitiver Energien voraus: was schon ein Gewinn ist. Sie führt zugleich zu einer vertieften Beschäftigung mit anderen Texten und den in ihnen sedimentierten Erfahrungen, Erinnerungen, Einsichten. Was will man mehr?

Der Autor lehrt Neuere Deutsche Literatur an der HU Berlin

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