Du hast doch auch mit ihm gespielt!

Tatort In "Vergessene Erinnerung" ist Kommissarin Charlotte Lindholm geflasht von einer Amnesie nach Autounfall. Hält sie aber nicht davon ab, die Überfrau im Emsland zu geben

Ein Mündel der Spannung im Krimi ist die Verwirrung, die den Zuschauer bis kurz vor Schluss im Unklaren lässt, wer denn nun warum delinquent geworden ist. Im Niedersachsen-Tatort mit dem oxymoronösen Titel Vergessene Erinnerung schwingt sich die Verwirrung allerdings zum Vormund auf. Anders gesagt: Vielleicht haben wir am entscheidenden Punkt nicht richtig aufgepasst, aber irgendwann ging erschien uns Jürgen Klopp, der beliebte Fußballtrainer und gewesene ZDF-Experte ("Das kann man nicht mehr verteidigen"), vor dem geistigen, von Namen, Delikten und Abhängigkeiten verwirrten Auge: Das kann man nicht mehr differenzieren.


Der Sven, der Knut, der Franz, die Petra, der Randers, die Helga, der Holger, die Mutter vom Holger, der Sohn vom Holger, die Erika, der Albert – Namen, Namen, Namen, ohne das wir mit der Schnelle, in der Kommissarin Lindholm (Maria Furtwängler), stets auf dem Quivive, eben diese Namen herunterrattert, Schauplätze wechselt, Verdächtige identifiziert, Ermittlungen vorantreibt, in irgendeiner Form Schritt halten konnten.


Vergessene Erinnerung, noch eine Doris-J.-Heinze-Gedächtnis-Produktion, will ein wenig viel: Die Kommissarin involviert sich durch einen Crash in den Fall, den sie dann aufklärt. Sie kämpft um ihre Erinnerung und erinnert manchen Dorfbewohner zugleich an eine Frau, die auch einen Autounfall hatte. Wobei diese Doppelgängergeschichte genau genommen keine Rolle spielte. Dann geht es um Bio-Anbau und Erbstreitigkeiten, und plötzlich um Drogenhandel in der emsländischen Provinz, der von 10-jährigen Gehörlosen organisiert wird, bei denen man sich – trotz Internet, Alta! – fragt, wie sie Kontakt zu international operierenden Rauschgiftsyndikaten mit nationalsozialistisch aufgeladenen Abkürzungen (SS) herstellen können.


Bei soviel Tohuwabohu kommen die gesellschaftspolitischen Implikationen, denen unser Hauptnebeninteresse gilt, naturgemäß zu kurz. Man erfährt, dass Provinzpolizisten schlecht bezahlt sind (1400 Euro netto), und dass es in Holland auch nicht anders ist, weshalb die aparte Gast-Kommissarin (oder war sie doch Hochstaplerin?) mit dem aparten Namen Tamma von Heuven (Idil Üner) gleich am ganz großen Rad dreht und munter mitmischt im Haschisch-Hustle.


Immerhin ist die Überfrau Charlotte Lindholm eine konsequente Besetzung – Andrea Sawatzki aka Charlotte Sänger oder der unvergessene Jochen Senf aka Max Palu wären völlig überfordert gewesen mit all dem Durcheinander. Charlotte Lindholm, die Reinkarnation der CDU-Familienpolitik, zeigt aber nicht nur Subalternen, wo Bartel den Most holt, sondern betreut nebenher noch ihren drei Jahre alten Sohn, der zum wiederholten Male die ärmste Sau von allen ist.


Diese grausamen Drehbuchautoren (Dirk Salomon und Thomas Wesskamp) sind sich wahrlich nicht zu schade, das Kind nicht nur dauernd zwischen Tür und Angel vorzuzeigen, damit wir nicht vergessen, dass Charlotte Lindholm nicht nur eine allein ermittelnde Powerfrau ist, sondern auch eine allein erziehende Übermutter. Der Gipfel der Grausamkeit ist, dass die Lindholm-Figur mit dem Kind offenbar so wenig anzufangen weiß, dass immer dann, wenn sie sich gerade um das Kind kümmern will, ihr Handy klingelt, das – die Spitze des Gipfels der Grausamkeit – auf diesen schrecklichen Standard-Ton hört, den gestellsferne Menschen nie zugunsten eines dezenten Vibrierens abschalten würden.


Über diesem Bergmassiv der Grausamkeiten, die an dem armen Kind begangen werden, schwebt nun in Vergessene Erinnerung die Umwandlung des Kinds zur Verhandlungsmasse bei der Täterergreifung, bei der, auch wenn naturgemäß keine Zeit ist, Charlotte Lindholm einmal weinen darf. Wegen Muttersein und so.


Anders gesagt: Wenn diese Folge schon als Deja-Voodoo mit Doppelgänger und Zeitverknotung gedacht ist, dann kann man, Tatort immanent betrachtet, in dem durchtraumatisierten Lindholm-Sohn nur den heutigen Kommissar Ballauf erkennen, der seine hier erlittene, frühkindliche Beschädigung in Alkohol, Beziehungsunfähigkeit und Currywürsten ausagiert.

Der abwesendste Täter, den es je gab: Ex-Knecht Randers (Thomas Thieme)
Günter Oettinger is calling oder: Charlotte Lindholm spricht mit Holland: "Yes, hello this is, do you speak german?"

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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