Phänomenologie des Provokateurs

Sarrazin Die Distanz, auf die man zu Thilo Sarrazin geht, entspricht der Achtung, die man ihm zollt. Denn der Tabubruch ist Motor, nicht Ausnahme der Tagespolitik

Erinnern Sie sich noch an Heinrich Lummer? Der Westberliner CDU-Politiker, in den achtziger Jahren als „Mann fürs Grobe“ bekannt, kann als früher Prototyp einer Spezies gelten, die einst vor allem in den Reihen der konservativen Parteien angesiedelt war, spätestens seit der Skandalkarriere des Integrationsexperten und Hobbygenetikers Thilo Sarrazin aber auch in der Sozialdemokratie angekommen ist: der politische Provokateur.

Provokation ist, entgegen einer verbreiteten Annahme, kein progressives, sondern ein zutiefst populistisches Verhalten. Wer öffentlich eine Meinung äußert, die bei der Mehrheit der Bevölkerung Ressentiments und Abwehr hervorruft oder sonstwie gesellschaftlich unbotmäßig ist, wird zum Außenseiter, bestenfalls zum geduldeten Exoten, aber nicht zum Provokateur. Dieser zeichnet sich im Gegenteil dadurch aus, dass er konsensfähige Vorurteile mit einer Offenheit und Drastik ausspricht, die der Durchschnittbürger, der heimlich ganz genauso denkt, für ebenso bewundernswert wie unvorsichtig hält, weshalb er zum Provokateur auf Abstand geht, indem er ihm in gesitteterem Tonfall beipflichtet.

Wie Heinrich Lummer in seiner Partei als notorischer „Rechtsaußen“ gerade deshalb einen sicheren Platz innehatte, weil er bei jeder Gelegenheit zu erkennen gab, dass er bei den „Republikanern“, die damals Erfolge feierten, im Grunde besser aufgehoben wäre, so wird auch die Causa Sarrazin fest im kulturellen Gedächtnis seiner Partei verankert bleiben. Ausschlussverfahren hin oder her, dieser Mann gehört zur deutschen Sozialdemokratie, wie Möllemann zur FDP oder Lummer und Hohmann zur CDU gehörten. Die Distanz, auf die man zu ihnen geht, entspricht der Achtung, die man ihnen zollt. Ordinäre Konformisten, die einfach nur einer von uns sein wollen und keinen Deut anders reden als wir alle, werden es nie zum Provokateur bringen.

Der Provokateur nämlich muss bereit zum Tabubruch sein, der immer auch ein Dammbruch ist. Anders als Unbotmäßigkeiten, die sich nur Menschen leisten, die nicht wissen, wo ihr Platz ist, werden Tabubrüche nicht mit Ausgrenzung bestraft, sondern mit Auszeichnungen belohnt – wobei unter gewissen Umständen auch der Parteiausschluss als eine solche Auszeichnung gelten kann. Ebenso wie „Provokation“ ist „Tabubruch“ schon lange kein idiosynkratischer Begriff mehr. Die Grenzüberschreitungen, die er bezeichnet, werden vom gesunden Volksempfinden nicht abgelehnt, sondern herbeigesehnt: Überall, darin sind die Volksparteien sich mit ihren Juniorpartnern einig, müssen „Verkrustungen“ aufgebrochen, „liebgewordene Gewohnheiten“ über Bord geworfen oder „soziale Sicherheiten“ zur Disposition gestellt werden. Der Tabubruch ist Motor der Tagespolitik, nicht deren Ausnahme.

Die politischen Provokateure bilden die populistische Avantgarde, indem sie Ressentiment und Geistesfeindschaft als Befreiung aus überkommenen Zwängen und Mut zur Wahrheit verkaufen. Sekundiert werden sie von den Haushofmeistern der Macht, die hierzulande Peter Sloterdijk oder Norbert Bolz heißen und die Kunst der Provokation gleichsam auf zweiter Reflexionsstufe betreiben, indem sie sich als staatsferne Entfants Terribles gebärden, deren „gefährliches Denken“ die Mechanismen der Macht unterwandere, während sie in Wahrheit, als lauteste Spatzen auf den Dächern, genau das gleiche sagen wie diejenigen, die sie mit ihren schrillen Stimmen überschreien. So arbeitet die Avantgarde der Provokateure am fortschreitenden Abbau gesellschaftlicher Freiheit. Erst wenn es keine Provokationen mehr, aber jede Menge liebgewordene Gewohnheiten gibt, an denen die Menschen sich ohne Angst erfreuen können, wird das Leben vielleicht ein wenig schöner sein.

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